Konzertbericht: Igorrr w/ Otto von Schirach

09.05.2022 München, Strom

Jeder Konzertgänger kennt sie mittlerweile … die Tickets, auf denen immer neue Daten notiert sind. Wer sich 2019 eine Karte für IGORRR gekauft hat, kam in den letzten zwei Jahren mit dem Ausstreichen und Aufschreiben kaum hinterher: Etwa dreimal wurde die Tour verschoben, zwischendurch war völlig unklar, welche Shows überhaupt stattfinden, da widersprüchliche Tourpläne mit sich überschneidenden Shows verbreitet wurden. Und mit Author & Punisher wurde zudem auch eine der ursprünglich eingeplanten Bands wieder vom Billing gestrichen.

Doch nun hat das Chaos ein Ende: IGORRR sind tatsächlich auf Tour, und so voll wie das Münchner Strom an diesem Montagabend ist, hat die Info auch alle Ticketbesitzer der schon vorab ausverkauften Show erreicht.

Otto von Schirach in MünchenSo darf sich schon OTTO VON SCHIRACH als Opening-Act über ein volles Haus freuen. So voll, dass man sich über OTTO VON SCHIRACH freuen kann, muss man allerdings auch erstmal sein – nüchtern ist die Darbietung des US-Amerikanischen Breakcore-Musikers jedenfalls kaum zu ertragen. In skurriler Gewandung irgendwo zwischen Karneval und Raumschiff Enterprise führt OTTO VON SCHIRACH eine One-Man-Show auf, die jeder dadaistischen Theaterinszenierung Konkurrenz macht: Willkürlich aneinandergereihte Beats und Loops bilden die stumpfe Basis für absolute Nonsenstexte („Dinosaurs – yes!“). Dazu hat er ein so kleines wie skurriles Sammelsurium an Posen auf Lager: Mal betet er sein Medallion („magic triangle“) an, dann spielt er minutenlang Sockenpuppentheater (ohne Socke), dazwischen „crabwalkt“ er über die Bühne. Und das nicht etwa 20, 30 oder 40 Minuten, sondern volle 50 (!).

Otto von Schirach in MünchenDass OTTO VON SCHIRACH seit nunmehr 20 Jahren mit diesem „Konzept“ unterwegs ist, bezeugt – ebenso wie der Mosphit des Abends –, dass man für wirklich alles Hörer finden kann. Wer hier allerdings wen verarscht bleibt genauso ungeklärt wie die Frage, was einen begnadeten Musiker wie Gautier Serre von Igorr dazu verleitet hat, ausgerechnet diesen rein musikalisch betrachtet vollkommen belanglosen Act als Vorgruppe einzuladen.

Igorrr in MünchenNachdem der Support-Act seine überlange Show erst um 20:40 Uhr – und damit 70 Minuten nach dem eh schon spät angesetzten Einlass – begonnen hatte, ist es bereits 21:50 Uhr, als IGORRR endlich die Bühne betreten. Das wäre an einem Montagabend auch arbeitnehmerfreundlicher gegangen – lange Zeit, darüber zu sinnieren bleibt allerdings nicht. Denn was Gautier Serre mit seiner Band auf die Bühne des Strom zaubert, belegt von Minute eins an jede freie Synapse: Zunächst beginnt DJ Serre allein am DJ-Pult, ehe seine Mitstreiter die Bühne betreten und den Wahnsinn von „Paranoid Bulldozer Italiano“ komplett machen.

Igorrr in MünchenWährend JB Le Bail in schwarz-goldenem Corpsepaint wie angestochen brüllt, bietet Sängerin Aphrodite Patoulidou eine opernreife Darbietung – musikalisch wie auch in Sachen Show. Dass IGORRR mittlerweile als volle Band agieren, bestimmt im weiteren Verlauf natürlich auch die Setlist: So ist es wenig überraschend, dass 16 der insgesamt 19 Stücke den letzten beiden Alben entnommen sind, die in dieser Besetzung entstanden sind, während „Hallelujah“ und „Nostril“ nur mit einem respektive zwei Songs vertreten sind. Die elektronische Komponente ist damit – wie eben auch schon auf den letzten Studioalben – merklich zurückgefahren; bei einigen Songs greift sogar Gautier Serre noch zur Gitarre.

Igorrr in MünchenDer Faszination, die IGORRR mit ihrer Performance wecken, tut das keinen Abbruch: Insbesondere die schier atemberaubende gesangliche Leistung von Aphrodite Patoulidou in Kombination mit Gautier Serres verqueren Beats und Sounds zwischen Breakcore und Barockmusik sorgt für offene Münder. Doch auch die enorme Energie, die IGORRR als Band auf die Bühne bringen, beeindruckt. So ist es kein Wunder, dass es nicht lange dauert, ehe das Publikum komplett ausrastet – und die gesamte Show über nicht mehr zur Ruhe kommt.

Igorrr in München

  1. Paranoid Bulldozer
  2. Italiano
  3. Spaghetti Forever
  4. Hollow Tree
  5. Nervous Waltz
  6. Downgrade Desert
  7. Camel Dancefloor
  8. Tout Petit Moineau
  9. ieuD
  10. Parpaing
  11. Polyphonic Rust
  12. Pavor Nocturnus
  13. Caros
  14. Viande
  15. Opus Brain
  16. Himalaya Massive
  17. Ritual
  18. Cheval
  19. Apopathodiaphulatophobie
  20. Robert
  21. Very Noise

So lang sich die 50-minütige Freakshow von OTTO VON SCHIRACH gezogen hat, so kurzweilig sind die 75 Minuten, mit denen IGORRR ihre Fans beglücken: Gefühlt nach zweimal Zwinkern sind Set plus Zugaben gespielt und IGORR und Fans feiern sich, vom Brainfuck-Track „Very Noise“ begleitet, gegenseitig: Gitarrist Martyn Clément geht Crowdsurfen, auch der Rest der Band ist sichtlich angetan von der beachtlichen Resonanz des Publikums: Montagabend, spät … war da was?

Auch sonst scheinen Wochentag und Uhrzeit keine Rolle zu spielen: Nach Konzertende bleiben die Fans in großer Zahl gesellig vor dem Strom stehen – die Rückkehr der Livekultur feiernd, die milde Frühlingsnacht genießend, aber wohl auch bemüht, die Synapsen nach diesem rundum verrückten Abend mit Alkohol und Smalltalk wieder in die Gänge zu bekommen.

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Ein Kommentar zu “Igorrr w/ Otto von Schirach

  1. Schöner Bericht, danke. Habe Igorrr vor einigen Jahren auch mal live sehen dürfen auf dem Euroblast. Auch wenn ich die Entwicklung nach Halleluja nicht sonderlich begrüße, kommt man nicht umhin zu attestieren, dass Igorrr live einfach keine Gefangenen macht. Muss man mal gesehen haben.

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