Interview mit Gautier Serre von Igorrr

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In seiner Musik könnte der Ursprung des Sprichworts von Genie und Wahnsinn sein, die bekanntlich so nah beisammenliegen: Gautier Serre. Mit IGORRR veröffentlicht der Franzose seit rund 15 Jahren Alben, in denen „Metal, Breakcore und Barockmusik verbunden werden“, wie es auf Wikipedia so herrlich hilflos heißt. Im Interview scheint durch, wie jemand drauf ist, der Alben wie „Spirituality And Distortion“ schreibt. Ein Gespräch über Corona und Bratwurst, Hühner als Instrument und die Frage: verrückt oder nicht verrückt – und wenn ja: wie viele?

Hallo! Wie geht es dir in Zeiten der Corona-Krise – alles in Ordnung soweit?
Nachdem die Tour mein zentraler Plan für das Jahr 2020 war, kann ich nicht behaupten, dass bei mir alles in Ordnung ist. Bis jetzt ist jedes einzelne Konzert entweder abgesagt oder verschoben worden.

Wie gehst du mit der Situation um, wie wirkt sich die Krise auf dein Leben aus?
Die ganze Situation hat mich in einen sehr intensiven emotionalen Zustand heruntergezogen, den ich jetzt nutze, um Musik zu schreiben … ziemlich dunkle und extreme Musik. Darüber hinaus haben wir immer noch keine Note von “ Spirituality And Distortion “ auf der Bühne gespielt, das ist sehr frustrierend. Das verstärkt die Wucht der Stimmungslage. Nach Monaten oder sogar einem Jahr, in dem wir nicht auf Tournee gewesen sein werden, obwohl wir es eigentlich hätten sein sollen, werden die Konzerte noch verrückter sein als vorher.

Ohne die Tour fehlt dem Album die Live-Promotion – hast du Angst, dass das den Erfolg des Albums beeinträchtigen wird?
Wir hatten tatsächlich die Befürchtung, dass das Album nicht veröffentlicht wird oder dass die Resonanz geringer ausfallen würde, aber stattdessen war die Gesamtsituation so verrückt, dass die Leute darin den perfekten Soundtrack für ihren Lockdown gefunden zu haben schienen. Die Resonanz war mehr als überwältigend.

Die neuen Songs sind viel metallastiger, der Elektro-Teil ist hingegen reduziert. Was hat zu dieser Entwicklung geführt?
Ich bin der ganz natürlichen Entwicklung gefolgt, die mich all die Jahre anleitet, die Musik zu schreiben, die ich fühle – je nachdem, wie es sich gerade anfühlt, in der jeweiligen Zeit Mensch auf dieser Erde zu sein. Einige Tracks auf „Spirituality And Distortion“ sind eher elektronisch-verrückt, einige eher metallastig. Mit Tracks wie unter anderem „Very Noise“ oder dem Intro von „Paranoid Bulldozer Italiano“ finde ich schon, dass das Elektronische viel Raum auf dem Album einnimmt. Allerdings habe ich diesmal keine Trigger oder Midi-Instrumente verwendet, um akustische Sounds vorzutäuschen. Insofern würde ich sagen, dass der Klang tatsächlich organischer und lebendiger ist.

Die Lieder klingen auch nicht mehr ganz so verrückt, wirken dafür aber stimmiger und eingängiger. Würdest du das so unterschreiben?
Ich empfinde dieses Album als kohärenter, ja, aber ich habe noch keine Distanz zu ihm, also kann ich nicht sagen, dass ich objektiv bin. Ich habe aber dazu, wie verrückt dieses Album ist, schon beide Extreme gehört: Einige Journalisten haben mir gesagt, es sei das bisher verrückteste IGORRR-Werk, andere fanden es weniger verrückt als die anderen Alben. Was ich also sagen kann, ist, dass „verrückt“ etwas sehr Subjektives ist und wirklich von der Sensibilität des betreffenden Menschen abhängt … es kann auf viele verschiedene Arten aufgefasst werden. Meiner persönlichen Sensibilität zufolge ist „Spirituality And Distortion“ verrückter als meine vorherigen Alben, aber auf eine andere Art, subtiler und viel tiefgründiger.

Hat das etwas damit zu tun, dass IGORRR nicht mehr nur ein Projekt ist, sondern du jetzt mit einer Band arbeitest und ihr die Songs live spielen wollt?
IGORRR ist ein Projekt, das ich geschaffen habe, um die Musik zu machen, die für mich zu 100 % und ohne jede Einschränkung Sinn ergibt. Das ist auch heute noch der Fall und es gab, was das angeht, von Anfang an keine Kompromisse – nicht die kleinsten. Wenn ich Musik schreibe, achte ich überhaupt nicht darauf, ob sie live umsetzbar ist. Die Bühne ist bei IGORRR absolut zweitrangig. Wir haben viel Spaß daran, zusammen auf Tournee zu gehen, aber die Essenz von IGORRR ist die Musik selbst. Die Musik ist ohne Kompromisse geschrieben und keine einzige Note wurde bei IGORRR je aus pragmatischen Gründen gestrichen.

© Svarta Photography

Hat sich denn an den Strukturen und Arbeitsweisen bei IGORRR etwas geändert? Welchen Einfluss haben die anderen Musiker?
Ich schreibe nach wie vor die gesamte Musik und meine Freunde, großartige Musiker, begleiten mich auf der Bühne, um diese Musik live wiedergeben zu können. Im Grunde mache ich bei IGORRR alles, vom Schreiben der Musik über das Mischen, die Arbeit am Clip bis zum Albumcover, im Grunde genommen also alles Künstlerische. Aber sobald die Musik fertig ist, schaue ich mit den Musikern, was man live spielen kann und was nicht. Manchmal müssen wir das Material auch anpassen … denn wenn ich Musik schreibe, frage ich mich nicht, ob sie live spielbar ist oder nicht. Ich hätte dabei Angst, dass es die Qualität der Musik beeinträchtigen könnte. Also konzentriere ich mich zu 100 % auf die Musik selbst und darauf, wie sie klingt. Zum Glück bin ich von unglaublichen Musikern wie Laure Le Prunenec oder Sylvain Bouvier umgeben, die in der Lage sind, diese Musik auf der Bühne auszudrücken, wie es sonst niemand kann. IGORRR ist also keine Band, aber auch nicht nur ein Soloprojekt.

Hat das auch Einfluss auf die Art und Weise gehabt, wie die Lieder entstanden sind?
Nein, IGORR hat nur Sinn, wenn die Musik völlig rein ist. Das Schreiben der Musik ist, worum es bei IGORRR geht – alles andere ist nachrangig.

Das Video zu „Parpaing“ lässt vermuten, dass ihr das Album live aufgenommen habt. Stimmt das oder täuscht der Eindruck?
Das Video zu „Parpaing“ ist ein lustiges Video. Ich habe dieses Videomaterial von George Fisher, Sylvain (Schlagzeug), Martyn (Gitarre) und mir selbst, wie ich an etwas Elektronik herumspiele, verwendet, um dieses Live-Feeling zu erzeugen – aber nein, das Album selbst wurde nicht live aufgenommen.

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Wie schreibst du generell solche Musik? Womit fängst du an – und wann hörst du auf, daran zu feilen – oder wie viel improvisierst du im Studio?
Ja.

Deine Musik vereint verschiedene Stile auf höchstem Niveau. Was hat deine musikalische Karriere geprägt – wann und mit welchem Genre hast du den Weg zur Musik gefunden?
Ja.

Wenn du eine Prognose wagst: Ist das verrückte Elektroprojekt IGORRR Geschichte und in Zukunft wird es nur noch die Avantgarde-Metal-Band IGORRR geben oder war das auch nur eine Phase oder ein Experiment?
Ich habe keine Ahnung, wie IGORRR in ein paar Jahren klingen wird, vielleicht gibt es IGORRR in ein paar Jahren nicht mehr? Wir können uns über nichts sicher sein. Das Einzige, was ich weiß, ist Folgendes: Wenn die Musik nicht die Qualität hat, die mir vorschwebt, wenn ich sie nicht besser finde als die zuletzt veröffentlichte, werde ich sie nicht veröffentlichen.

Nicht nur musikalisch sind IGORRR sehr speziell – das gilt auch für die Videos. Wie kam es zu diesem surreal-absurden Video zu „Very Noise“ – oder besser gesagt zur Handlung?
Das Video zu „Very Noise“ war wirklich cool zu machen. Wir wollten das absurdeste und sinnloseste Video abliefern, das wir zu diesem Track erschaffen konnten. Dabei muss ich an deine Frage von vorher denken, als es darum ging, dass du die Musik diesmal weniger elektronisch und weniger verrückt fandest. Ich glaube, hier haben wir ein großartiges Gegenbeispiel. Was das Video anbelangt, fing es damit an, dass wir Computerfehler nutzen wollten, um zu programmieren, dass die 3D-Figur so unmenschlich tanzt. Dann haben wir Schritt für Schritt viele Elemente hinzugefügt, die eine Art Geschichte daraus gemacht haben. Aber die Ästhetik stand hier im Mittelpunkt: etwas Verrücktes, das gut mit der Musik synchronisiert ist.

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Das Video zu „ieuD“ hat im Gegensatz dazu fast schon Black-Metal-Ästhetik, „Downgrade Desert“ ist in einer Wüste gedreht, „Parpaing“ enthält Videospiel-Sequenzen … wie kommst du auf die Ideen – und ist es nicht aufwendig und teuer, so viele Videos zu drehen?
Die Ideen kommen ganz von alleine, wie bei der Musik. Irgendwann, nachdem man monate- und jahrelang daran gearbeitet hat, kennt man seine Tracks so gut, dass das Bildmaterial wie der Beweis wirkt. Und ja, manchmal treibt man sich selbst in den Ruin, um ein Video zu machen … einige von ihnen sind sehr, sehr teuer wie „Downgrade Desert“ und einige werden fast ohne Budget produziert wie das Video von „Parpaing“. Ich mag es, mit einem Video viele Aspekte der Annäherung an einen Track aufzeigen zu können: Aufwendige Videos wie „Downgrade Desert“ oder „Opus Brain“ zeigen einen sehr ausgefeilten und schönen Aspekt des Projekts, während die selbstgedrehten Videos wie das zu „Parpaing“ oder „Cheval“ das Gegenteil zeigen – nämlich ein menschlicheres Gefühl in dem Projekt. Es ist mir wichtig, eine wilde Palette von Ansätzen vorschlagen zu können, die meiner Meinung nach die Musik und die Sichtweise auf das Projekt vollständiger machen.

Planst du noch mehr Videos?
Wir werden sehen, was die Zukunft bringt.

Vielen Dank für das Interview! Zum Abschluss ein kurzes Brainstorming:
Videospiele: Crash Bandicoot
Dein Lieblingsinstrument oder Soundmodul: Huhn
Film-Soundtracks: Interstellar
Black Metal: Mayhem
Deine Lieblingsband: Bach
IGORRR in zehn Jahren: Mürrisch und faltig

Nochmals vielen Dank für deine Zeit und Antworten. Die letzten Worte gehören dir:
Bratwurst.

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Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
Zur besseren Lesbarkeit wurden Smilies ersetzt.

Ein Kommentar zu “Igorrr

  1. Nachdem King Dude ja letzthin alles andere als aufgelegt für ein Interview erschien (und meiner Ansicht nach recht unprofessionell reagiert hat), schafft es Gautier Serre wenigstens ansatzweise das Ganze etwas lustig zu lösen. Das passt ja dann doch auch im wesentlichen sehr gut zu Igorrr und aller Abgefahrenheit des Projektes.

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