Review Entombed – Unreal Estate (live)

  • Label: Threeman
  • Veröffentlicht: 2004
  • Spielart: Death Metal

Ohne Entombed würden dem imaginären Geschichtsbuch des Death Metals ein paar essentiell wichtige Kapitel fehlen. So konnte die Band mit ihrem Debütalbum „Left Hand Path“ (1990) das gesamte Genre maßgeblich beeinflussen und ließ in Form des beinahe ebenso referenziellen Werkes „Clandstine“ (1991) eine weitere Glanztat folgen. Neben der fast revolutionären Intensität war es vor allem die intelligente, durchweg anspruchsvolle Spielweise, welche den Alben einen ganzen besonderen Stempel aufdrückte. Des Zweifels ohne sollten alle Freunde der todesmetallischen Musikrichtung einmal in den Genuss dieser hochkarätigen und einst genauso extremen wie wegweisenden Kompositionen gekommen sein. Darüber hinaus muss ich jedoch gestehen, dass ich mit dem restlichen Bestandteil der bisherigen Schaffensphase von Entombed leider nicht sehr vertraut bin. Jenes ist dennoch keineswegs auf die Tatsache zurückzuführen, dass das Quintett über die Jahre hinweg immer mehr Rock’n’Roll-Einflüsse in seinem Sound unterbrachte: Ich scheine bislang nämlich schlicht und einfach weitestgehend grundlos an Entombed vorbeigerasselt zu sein, denn von stilistischer Abschreckung kann da nicht die Rede sein – im Gegenteil. Mehr als fünfzehn Winter liegt die Gründung der schwedischen Pioniere nun schon zurück und entgegen ihrem Bandnamen sind Entombed noch lange nicht „begraben“. Mit dem jüngsten, mir vorliegenden Output „Unreal Estate“ schmeißen sie bereits ihr zweites Live-Album auf den Markt, doch im Gegensatz zu „Monkey Pass“ (1998 ), welches den Mitschnitt eines Konzertes in London während der „Gods Of Grind“-Tour 1992 mit Carcass, Cathedral und Confessor sowie einige Videoclips umfasst, handelt es sich hierbei um eine äußerst ungewöhnliche und in starkem Maße experimentelle Veröffentlichung.

Denn „Unreal Estate“ konserviert den akustischen Mitschnitt des letzten Auftritts einer achtteiligen Konzertreihe im Royal Opera House in Stockholm / Schweden, welche Entombed zwischen dem 15. Februar und 1. März 2002 gemeinsam mit der Royal Swedish Ballet Company absolvierten. Ätherisch-graziler Kunsttanz zu exzessiv groovigem Death Metal? Fast jeder musikalisch auch nur halbwegs bewanderte Mensch dürfte problemlos den gigantischen Kontrast erkennen, der zwischen diesen beiden „Welten“ herrscht und würde sie demnach in keinster Weise miteinander assoziieren. Diesbezüglich stellen die zwei Ballet-Choreographen Bogdan Szyber und Carina Reich wohl eine absolut krasse Ausnahme dar, und so kontaktierten sie eines glorreichen Tages Entombed-Bassist Jörgen Sandström – welcher mittlerweile von Nico Elgbrand ersetzt wurde – per E-Mail, um ihn von eben jener visionären Fusion zu überzeugen. Was Entombed anfangs noch als Witz auffassten und gar ignorierten, sollte schließlich in acht fulminanten Shows gipfeln, deren abschließender Mitschnitt nach eigener Aussage die beste, je auf einem Silberling gebannte Live-Performance der Band manifestiert. Ob das gemeinsame Agieren von Entombed und den 35 Tänzerinnen und Tänzern letztendlich auch optisch harmoniert hat, lässt sich an Hand dieser CD natürlich nicht in Erfahrung bringen. Jenes ist unter Umständen leicht enttäuschend, zumal ein solch einzigartiger Gig doch eigentlich für eine DVD-Veröffentlichung prädisponiert sein müsste. Betreffend dessen darf ich jedoch verkünden, dass die Menschheit von der aufgezeichneten Darbietung schon sehr bald auch visuelle Befriedigung erlangen werden kann. Bis dahin bleibt sich rein akustisch mit dem Programm zu vergnügen, welches seinen Schwerpunkt auf die Alben „Urprising“ (2000) und „Morning Star“ (2001) legt. Alle Stücke wurden eigens hierfür mehr oder weniger umkomponiert und sind äußerst ingeniös ausgefallen.

Das betörende Klavierinstrumental „DCLXVI/Intermission“ verschafft dem Hörer einen wunderbar melancholischen Einstieg in diesen bizarren Live-Erguss. Nach 3 ½ Minuten und sowie kurzem Applaus – „Chief Rebel Angel“ hat begonnen – ertönt jeweils im Abstand von wenigen Sekunden ein unterschwelliges Stampfen, welches schnell für die Präsenz eines langsamen, bewusst zähen Gitarrenspiels in den Hintergrund rückt. Dies besteht aus lediglich vier simplen Tönen, kann aber dennoch in Verbindung mit vielerlei anderen, geradezu minimalistischen Soundfragmenten und -einsprengseln eine düstere und fast perfide Atmosphäre aufbauen. Urplötzlich hacken die Gitarren im blitzschnellen Stakkato herein und sind ebenso ruckartig wieder verklungen. Nach dem dritten Einsetzen dieses Effektes wird den zwei angespielten Tönen ein kurzer Ausklang gewährt – währenddessen arbeitet die restliche, bereits erwähnte Soundkulisse stets weiter. Der vierte Dynamikschub ist vollzogen, da nimmt „Chief Rebel Angel“ endlich Fahrt auf. Wuchtig und präzise dröhnt das Lied aus den Boxen – selten habe ich einen derart exzellenten Live-Sound gehört. Die Nummer ist sehr rasant, wobei sie sich dem entgegen überaus tief und träge zu „Slay It In Slugs“ hinüberschleppt. Der Bass geht jenem Muster anfangs auch weiterhin nach und erhält lediglich von ein paar raffinierten Gitarreneffekten verspielte Gesellschaft. Keine Minute ist vergangen, als das Schlagzeug – ungewöhnlicherweise auf der Zählzeit „2“ – einsetzt, und den Song in gemäßigtem Tempo voranzutreiben beginnt. Folglich offenbart das Stück zunehmend härtere sowie auch schnellere Passagen. Gegen Ende verlangsamt es sich wieder und wird schließlich durchweg fließend von „It Is Later Than You Think“ abgelöst. Dieses Intermezzo fungiert auf gänzlich elektrischer Basis und hat seinen Ursprung meines Wissens nach in einem Sample aus dem Song „They“, welcher wiederum der Platte „DCLXVI – To Ride, Shoot Straight And Speak The Truth“ (1997) entstammt.

„Returning To Madness“ wartet mit einem absoluten Killerriffing auf und ist zudem sehr basslastig. Planierfähiges Midtempo in vorbildlicher Zelebrierung! „Mental Twin“ wurde zwar extrem ähnlich konzipiert, weiß mich aber dennoch nicht so richtig zu begeistern. Vor allem die Leads disharmonieren doch sehr mit meinem Geschmack und auch der Chorus will nicht ansatzweise zünden. Bei „Night Of The Vampire“ handelt es sich um eine Coverversion des Klassikers von Roky Erickson. Der Song ist 1995 als Split-Single mit „I Hate People“ von den New Bomb Turks erschienen und findet sich des weiteren auch auf dem selbstbetitelten Album „Entombed“ (1997). Das Stück besitzt unermesslich viel Charme und konnte in meiner Anlage längst zu einem Dauerbrenner avancieren. Keineswegs verwunderlich, dass Entombed ihrer persönlichen Originalfassung dieses tollen Liedes auch ein Video gewidmet haben. Hinter dem Titeltrack von „Unreal Estate“ verbirgt sich lediglich eine dreißigsekündige Blastbeat-Attacke, die wunderbar in das Album eingebettet ist und dank ihrer überraschend gewaltigen Vehemenz einfach nur Spaß macht. „In The Flesh“ stellt in meinen Augen (bzw. Ohren) einen etwas unscheinbareren Song dar, wobei er den anderen Kompositionen technisch gesehen natürlich in nichts nachsteht. „Something Out Of Nothing“ kann mich dagegen total vom Hocker hauen. Schon das anfängliche Riffing ist ein einziger Adrenalinschub und als der Track nach 1 ½ Minuten noch schneller und thrashiger wird, mag es fast vollends um mich geschehen sein: Entombed gehen hier in bester Slayer-Manier zu Werke. Nach einem merkwürdig hektischen Break ändert sich dies allerdings wieder und es folgt ein tonnenschwerer, jedoch äußerst flotter Midtempo-Part, bei welchem die Rhythmusfraktion eine tragende Rolle spielt. Groove-orientierter geht es kaum noch! Vor allem der herrlich tighte Fill im Mittelteil ist trotz seiner simplen Figur ein absoluter Hochgenuss. Feeling pur.

Die hinreißende, weit extensierte Schlusspassage aus „Left Hand Path“ verkörpert das Outro von „Unreal Estate“. Diese elegischen und leidenschaftlich getragenen Melodien brennen sich unweigerlich im Kopfe fest und sind zudem grenzenlos imposant. Ein Ausklang, wie man ihn sich besser nicht vorstellen könnte! Das Ende der CD wird von schmetterndem Applaus geziert, sogar „standing ovations“ soll das Publikum dem Quintett entgegengebracht haben, was im Royal Opera House angeblich schon seit den 50er Jahren nicht mehr vorkam. Letztendlich bleibt meinerseits die reichlich eindimensionale Songauswahl zu kritisieren, welche angesichts der zahlreichen Werke von Entombed einfach noch viel allumfassender hätte ausfallen müssen, so dass auch Neulingen ein spezifischer Querschnitt durch die gesamte Diskografie des Fünfers zu Teil werden kann. Die Spielzeit ist ebenfalls recht dürftig, jedoch verläuft musikalisch gesehen natürlich alles auf oberstem Niveau und schon allein das Wagnis „Unreal Estate“ hätte einen Orden verdient gehabt. Dennoch will ich durchaus vermuten, dass im absolut unbeschränkten Zweifelsfall das Warten auf die kommende DVD eine etwas bessere Maßnahme darstellt.

(Daniel H.)

Keine Wertung

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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