Review Godflesh – Songs Of Love And Hate

[Post-Metal / Industrial / Crossover] Es war 1988, als sich der neunzehnjährige Ex-Napalm-Death-Gitarrist Justin K. Broadrick und sein langjähriger Weggefährte Ben Green zusammentaten und mit Hilfe eines Alesis HR-16 Drumsamplers ihre Interpretation von Post-Industrial auf die Welt losließen: GODFLESH waren geboren und sollten durch ihr Schaffen in den folgenden 13 Jahren einen großen, wenn nicht sogar den maßgeblichen Einfluss für ganze Generationen von Musikern darstellen – Bands wie Fear Factory, Neurosis oder Isis hätten sich wohl nicht so entwickelt und viele moderne Metalsubgenres, allen voran Post-Metal, würden nicht existieren, wie wir sie heute kennen.

Acht Jahre später hatte sich die Musik von GODFLESH verändert, die Industrial-Einflüsse wichen urbanen Rhythmen anderen Ursprungs: wesentlich grooviger, weniger machinell. Letzteres nicht so überraschend, bekam der betagte Drumsampler doch menschliche Verstärkung in Form von Primus-Trommler Brian Mantia. „Techno und Hip Hop ist unserer Meinung nach die einzige moderne Musik, die sich mit dem Jetzt, der Zukunft und dem darüber Hinausgehenden befasst, während sogenannte moderne Rock- und Popmusik ausschließlich von der Vergangenheit vereinnahmt ist. Es gibt kaum noch Rock mit wirklicher Brutalität. Die finde ich heute eher in den Protesten des Hip Hop.“ erklärte Broadrick 1996 diese Entwicklung und erschuf mit „Songs Of Love And Hate“ einen spannenden urbanen Bastard, der sich vom legendären Streetcleaner-Album durch besagte Hip-Hop-Reminiszenzen maßgeblich unterscheidet.

Die Grundzutaten sind bewährt: Greens komprimiert knurrender Plektron-Bass, Broadricks höhenlastige, latent disharmonische Gitarre plus die entweder hasserfüllt keifende oder zerbrechlich-leise singende Stimme erzeugen eine absolut einzigartige Atmosphäre. Kalt, wütend, verzerrt, traurig, verzweifelt, psychedelisch, beklemmend: die emotionalen Abgründe des menschlichen Verstandes werden von GODFLESH textlich und musikalisch weit ausgelotet. Das ist intensiv und bis hierhin sicherlich eines von Broadricks emotionalsten Werken – und damit dem ein Vierteljahrhundert zuvor erschienenem Namensvetter von Leonard Cohen tatsächlich in einer Hinsicht ähnlich. Das hochemotionale „Frail“ ist ohne Frage eine der schönsten Balladen der Neunziger, die kein Schwein kennt.

Das echte Schlagzeug beeinflusst auch das Spiel von Broadrick und Green, denn beide folgen Mantias Groove bedingungslos. Dies ist besonders in den drei längsten Stücken des Albums hörbar: Das psychedelische „Gift From Heaven“, das hypnotische „Time Death And Wastefulness“ sowie das verstörende Stück urbaner britischer Musiksubkultur „Almost Heaven“ sind Meisterwerke und ihrer Zeit definitiv voraus. Das Zusammenspiel ist nicht absolut perfekt, aber auch die kleinen Menschlichkeiten in den Arrangements machen GODFLESHs sechstes Studioalbum zu einer neuen Stufe der Evolution in der Diskografie des Duos aus Birmingham. In „Angel Domain“ ist Broadricks Riffing beinahe klassisch metallisch, ohne damit im Widerspruch zu besagten Kopfnickerqualitäten zu stehen – in der Gesamtheit ist „Songs Of Love And Hate“ somit sogar zugänglicher als die vorangegangenen Werke.

„Songs Of Love And Hate“ wirkt maschinell, aber groovt. Klingt steril, aber organisch. Und ist repetitiv und bietet doch so viele Facetten und Schattierungen. Unendlich viele Grautöne im musikalischen Schwarz-Weiß-Denken des ausklingenden Jahrtausends. Und der perfekte Soundtrack für die Dystopie des neuen, welches bereits am Horizont zu erahnen war. Das Splatterbild im Booklet kam übrigens von Performance-Künstler Andres Serrano, dem geneigten Fan eventuell bereits durch das „Crush-My-Soul“-Video ein Begriff. Das Cover zeigt „Cancer Alley“, einem industrialisierten und vergifteten Landstrich mit extrem hoher Krebsrate in Louisiana (USA). Auch das passt wie die Faust aufs Auge. Ein elegantes Stück Musik und absolut zeitlos in jeder Hinsicht.

Wertung: 10 / 10

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