Review Neal Morse – Lifeline

Eineinhalb Jahre nach dem überraschend harten, düsteren und rasanten Werk „Sola Scriptura“ liefert Neal Morse mit „Lifeline“ neuen Prog-Stoff für seine immer noch treue Fangemeinde. Für den fleißigen Musikus eine beinahe lange Ruhepause, möchte man meinen – doch da in der Zwischenzeit eine Doppel-Live-DVD und ein Worship-Album erschienen sind, ist das ein Trugschluss.

All diejenigen, die sich von dem ehemaligen Frontmann von Spock’s Beard und Transatlantic eine weitere stark rifflastige Prog-Achterbahnfahrt wie „Sola Scriptura“ gewünscht haben, werden jedoch von dem neuen Longplayer enttäuscht sein: „Lifeline“ ist wesentlich ruhiger, balladesker und deutlich songdienlicher. Letzteres ist wohl dem Umstand zuzuschreiben, dass es sich bei der neuen Platte erstmals in Neals Solokarriere nicht um ein Konzeptalbum handelt. Die Songs stehen für sich, haben aber natürlich immer noch ein verbindendes Thema: Den christlichen Gott und seinen Sohn Jesus Christus. Vom Aufbau und auch Sound erinnern die sieben neuen Tracks, die es auf eine Gesamtspielzeit von 70 Minuten bringen, mehr als einmal an Spock’s Beards „V“-Album: Am Anfang und Ende der Platte stehen mit dem beinahe 14-minütigen Titelstück und dem 28-Minüter „So Many Roads“ epische Longtracks, dazwischen sammeln sich ein paar kurze, pop-rockige Stücke: „The Way Home“, „God’s Love“ und „Children Of The Chosen“ (genialer Refrain!) sind mal mehr, mal weniger flotte Akustikgitarren-Balladen in bester Neal Morse-Tradition und erinnern an Songs wie „Wind At My Back“ von Spock’s Beards Doppeldecker „Snow“. „Fly High“ beendet das Album episch, getragen und mit grandiosen Gitarrensoli, u.a. von Paul Bielatowicz (Carl Palmer Band), der Konzertbesuchern der letzten Neal-Tour oder Käufern der DVD „Sola Scriptura & Beyond“ noch mehr als eindrücklich im Gedächtnis sein wird.

Neuland betritt Neal mit „Lifeline“ nicht. Lediglich das hardrockig-progressive „Leviathan“ weiß mit einem spaßigen Synthi-Xylophon-Part zu überraschen. Zudem findet sich der Hörer in „The Humdrum Life“, einem Teilstück von „So Many Roads“, inmitten mehrerer wundervoller Saxophon-Soli wieder. Traumhaft! Ansonsten bekommt man solide (Prog-)Kost nach dem Schema des Altmeisters, das zwar mittlerweile hinlänglich bekannt, aber immer noch besser ist, als das Gros der restlichen Veröffentlichungen des Genres.

Auffällig ist, dass die Scheibe im Vergleich zu ihren Vorgängern wesentlich weniger stilistisch unterschiedliche Musik enthält. Mindestens zwei der Balladen hätten besser auf eines von Neals Worship-Werken gepasst und auch die Longtracks kommen erstaunlich poppig, eingängig und mainstreamig daher. Mehr denn je kombiniert Neal zum Beispiel in „So Many Roads“ mehrere recht einfach gestrickte Rock- und Popsongs zu einer epischen Prog-Suite, indem er bombastische Verbindungsstücke und anspruchsvolle Instrumentalparts einwebt. Klar, das war schon immer der Stil des Amerikaners, aber nie wurde dieses Strickmuster so deutlich, wie hier.

Diese bewusste Hinwendung zu ruhigeren, einfacheren Songs könnte ein Indiz dafür sein, dass Neal versucht, seine beiden Zielgruppen – also die Prog-Jünger und die Anhänger klassischen christlichen Liedgutes – zusammenzuführen. Man kann es aber auch einfach so interpretieren, dass Neal diesmal eher nach ruhigerem Material war oder ihm Schlichtweg die Ideen gefehlt haben.

Dies mag jeder für sich selbst beantworten. Insgesamt ist „Lifeline“ ein zweifellos gutes, aber keineswegs überragendes Stück Musik geworden. Eben „Mor(s)e of the same“. Anhänger von Neals Sound wird es freuen. Dennoch: Von der überbordenden Energie und dem unbändigen Feuer einer „Sola Scriptura“ ist diese CD weit entfernt. Dass auch hier wieder Mike Portnoy von Dream Theater hinter der Schießbude sitzt, sei der Vollständigkeit noch erwähnt.

„Lifeline“ erscheint auch als Special Edition mit 42-minütiger Bonus-CD. Diese enthält mit „Set The Kingdom“ und „Sometimes“ zwei weitere Neal-Kompositionen und einige Coversongs, u.a. von Joe Cocker, den Bee Gees und Elvis Costello.

Wertung: 8.5 / 10

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