Review Neal Morse – One

Da ist er also wieder. Das einstige Aushängeschild für die Renaissance des Progressive Rock Mitte der 90er, als er mit seiner damaligen Band Spock’s Beard viele Progrock-Fans aus der Leere zurückholte, die die 80er und die theoretische Auflösung von Marillion (als letztes Aushängeschild der Szene) hinterlassen hatte. Auf dem Hohepunkt des Erfolgs entschied er sich jedoch, sich mehr auf sein Leben als stark gläubiger Christ zu konzentrieren und verließ die Band, die seitdem alleine weitermacht und mit „Feel Euphoria“ 2003 bereits eine erste eigene Marke setzte. Aber auch Morse macht weiter Musik: Während seine ehemaligen Bandkollegen jetzt eher in Richtung „progressiver Hardrock“ tendieren, spielt er fröhlich weiter seinen farbenfrohen,symphonisch-bombastischen Progressive Rock. Einzige Änderung: Die Texte sind stark christlich beeinflusst. Etwa zur gleichen Zeit wie „Feel Euphoria“ erschien seine erste eigene, autobiographische Platte nach der Trennung, namens „Testimony“, eine Doppel-CD, auf der er seinen Weg vom unglücklichen Menschen zum durch den Glauben erfüllten Individuum beschrieb. Viele Fans waren zwar weiterhin höchst begeistert von seiner Musik, konnten aber der leicht missionarisch erscheinenden Ausrichtung seiner Texte nicht viel abgewinnen.

Auch das neue Werk „One“ befasst sich thematisch direkt mit Erzählungen aus der Bibel: Gott erschafft die Welt, die Menschen. Sie leben glücklich zusammen, bis es zum Sündenfall kommt, der Mensch seinen Gott praktisch verlässt und meint, ohne ihn besser klarkommen zu können. Aber er merkt, dass er sich irrt. Und schließlich sendet Gott Jesus Christus, der uns durch seinen Tod alle Sünden vergibt – wir sind wieder Eins mit Gott. Vorrausgesetzt wird natürlich, dass der Mensch gläubig ist!

Soweit der Bibelexkurs und die Story des Konzeptalbums. Neal hat sich wie schon auf „Testimony“ den Dream Theater Drummer Mike Portnoy ins Studio geholt, der den Songs unweigerlich seinen eigenen Stempel aufdrückt. Da entsteht Druck und Drive, da knallt pure Power aus den Boxen, ohne dass die Musik auch nur einmal metallisch wäre. Allerdings neigt Herr Portnoy auch dazu, ruhigeren Passage durch sein komplexes Schlagzeugspiel etwas die Atmosphäre zu nehmen. Bassist Randy George ist Konzertgängern der „Testimony“-Tour bereits bekannt. Er stammt aus der ebenfalls christlichen Progrock-Band „Ajalon“.
Nach „Testimony“ und dem letzten Spock’s Beard Doppelalbum „Snow“, das praktisch Neals Abschied von der Band war, hat er allerdings wieder zum 1-CD-Format zurückgefunden. Das kann hier durchaus als Vorteil gewertet werden: Im Nachhinein betrachtet war besonders Testimony zwar musikalisch brilliant, allerdings auch mit etlichen Wiederholungen und Längen behaftet. Außerdem gibt’s hier 79:55 Minuten Musik, man hat also die volle Spielzeit einer Einzel-CD ausgenutzt.

Es wird vielleicht auch viele alte Fans freuen, dass Neal sich hier eher auf seine Wurzeln zurückbesinnt hat: Die Songs wirken kompakter, mit mehr Ecken und Kanten versehen als die Kompositionen auf den beiden oben angesprochenen Platten, und deshalb eine ganze Spur progressiver. Das erinnert an die alten Spock’s Beard. Songs wie „Author Of Confusion“ zeigen Neal so spielfreudig wie zu guten alten Transatlantic-Zeiten. Obwohl die Songs alle unterschiedliche Stile aufweisen, schafft er es durch sinnvolles Wiederaufgreifen von Motiven eine enge Verbundenheit herzustellen, die ein große Homogenität über die gesamte Spielzeit zur Folge hat. Erstmals habe ich den Eindruck, dass die Longtracks „The Creation“ und „The Separated Man“ (beide übrigens ca. 18 Minuten) nicht allein ihre volle Pracht und Schönheit offenbaren können, sondern nur mit den Stücken „The Man’s Gone“ und „Reunion“ zu einem vollkommenen Ganzen verschmelzen. Schön auch, dass er eine gesunde Ausdrucksweise für seine christlichen Gedanken gefunden hat: Es wirkt alles nicht mehr so platt und pathetisch. Die Storyline erfordert nun mal auch, dass textlich zwischen Gott und den Menschen nicht immer gute Laune ist. Oftmals erscheinen mir die Lyrics besonders in der ersten Hälfte der Platte deshalb auch in gewisser Hinsicht gesellschaftskritisch. Da werden Phrasen in den Raum gestellt, über die jeder Mensch mal nachdenken sollte. Erst mit Songs wie „Cradle To The Grave“ oder „Father Of Forgiveness“ hält das Christentum vollen Einzug in die Textgestaltung (so beihaltet ersteres ein Duett: eine Unterhaltung zwischen Gott, gesungen von einem Gastvocalist, und den Menschen). In „Father Of Forgiveness“ hingegen bittet der sündige Mensch seinen Gott äußerst eindringlich um Vergebung, wie der Titel schon sagt.

Natürlich darf man nicht verkennen, dass Neal seine ganz eigene Art und Weise hat, Songs zu schreiben. So kann man ihm sicherlich vorwerfen, seit längerer Zeit wenig Innovation in seinen Songs zu verbreiten und sich, vorsichtig gesagt, ab und zu selbst zu kopieren. Aber das ist eher eine Sache des Hörers. Auf manche mag es vielleicht mittlerweile eine leicht ermüdende Wirkung haben, ich hingegen lausche den Songs immer noch äußerst gespannt und ergriffen; und ich bin mir recht sicher, dass es nicht nur mir so geht.

Neal schreibt Musik, die direkt aus seinem Herzen kommt und direkt in die Herzen anderer Menschen gehen kann, wenn sie es zulassen. Und sie hat die Kraft, den Hörer aufzurichten, ihm Mut zuzusprechen, ihm ein Gefühl des Wohlfühlens und der Zufriedenheit zu geben. Und das macht sie immer wieder zu etwas Besonderem und äußerst hörenswert.
Mit großer Wahrscheinlichkeit mein Album des Jahres!
Die Special Edition kommt mit einer Bonus-CD mit Coverversionen, u.a. von „U2“ und „The Who“, die nochmals 45 Minuten Spielzeit bietet. Zugreifen!

Wertung: 9.5 / 10

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