Review Neal Morse – Testimony 2

Fast drei Jahre nach seinem letzten, etwas zu seicht und uninspiriert geratenen Prog-Album „Lifeline“ steht NEAL MORSE nun mit neuem Solomaterial in den Startlöchern. Der Titel „Testimony 2“ deutet bereits an, dass es abermals sehr christlich zugeht – schließlich war Testimony im Jahr 2003 der Start in Neals Prog-Solokarriere und ein sehr persönliches Zeugnis von seiner Hinwendung zum Christentum. Wer also darauf gehofft hatte, dass der amerikanische Multiinstrumentalist auf seinem neuen Werk lyrisch und spirituell so offen und befreit agiert, wie auf dem in der Zwischenzeit unter seiner Mitwirkung veröffentlichten Transatlantic-Album „The Whirlwind“, dürfte enttäuscht werden.

„Testimony 2“ erzählt dabei nicht etwa über die Geschehnisse seit Release von „Testimony“; vielmehr greift Neal hier gezielt noch einmal den Teil der Geschichte heraus, der ihn von Grund auf verändert hat: Die Heilung seiner Tochter, die mit einem Loch im Herzen geboren wurde. Die Heilung, die sein Leben umkrempelte und schließlich dazu führte, dass er seine überaus erfolgreiche Progrock-Band Spock’s Beard 2002 verließ. Neal Morse-Fans dürfte diese Story schon lang und breit bekannt sein.

Wie es sich für ein Sequel gehört, eröffnet das Album natürlich mit einem musikalischen Thema aus „Testimony 1“, während die Tracklist folgerichtig mit Part Six beginnt. Das Album teilt sich dabei in drei jeweils mehr als 20 Minuten lange Teilstücke auf, in die immer wieder altbekannte Motive eingewebt werden – allerdings auf eine sehr erfrische und gelungene Art und Weise und in einer Dosierung, die zu keiner Zeit die Vermutung aufkommen lässt, Neal wären die Ideen ausgegangen. Diese Tatsache täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass er sich hier erwartungsgemäß nicht neu erfindet – was er aber auch nicht muss. Neben „Testimony“ muss der Hörer und Fan auch immer wieder an Spock’s Beards „Snow“ denken („Mercy Street“, „Nighttime Collector’s“, „Time Has Come Today“), und auch Transatlantics „The Whirlwind“ sowie Neals „Sola Scriptura“ standen Pate („It’s For You“, „Crossing Over / Mercy Street Reprise“).

Ein Highlight nicht nur auf dem Papier, sondern auch auf dem Album, ist die Beteiligung von Neals alten Spock’s Beard-Kollegen Nick d’Virgilio, Dave Meros und Alan Morse, die bei „Time Changer“ einen fugischen Satzgesang in bester Gentle Giant- und „Thoughts Part II“-Manier anstimmen.

Im Vergleich zum direkten Vorgänger „Lifeline“ fehlen die damals noch sehr präsenten Akustikgitarren auf „Testimony 2“ fast gänzlich. Dennoch hat Neal sich wie schon bei „Lifeline“ auch dieses Mal wieder dazu entschieden, einige schlichte Pop- und (Hard-)Rock-Nummern aufzunehmen. Nicht, dass das überraschend wäre – so schnörkellos wie Anno 2011 klangen diese Tracks aber noch nie. Gleichzeitig wurde auch der Kitschregler mehrere Stufen nach oben verschoben – man höre nur „Jayda“ oder das schockierend platte „Jesus‘ Blood“. Es ist sicher Geschmacks- oder Glaubenssache, ob man diese Songs gutheißen will, wichtiger ist aber die Feststellung, dass nicht alles auf „Testimony 2“ so pur, persönlich und authentisch klingt, wie man es von Neal bisher gewohnt war.

Doch das Beste haben sich Neal und seine mittlerweile langjährigen Begleiter Mike Portnoy (ex-Dream Theater, ex-Avenged Sevenfold, Transatlantic) und Randy George (Ajalon) bis zum Schluss aufgehoben: Der beinahe wieder bis zum äußersten Rand gefüllte Longplayer endet mit „It’s For You“ und „Crossing Over / Mercy Street Revisited“ ähnlich furios wie „The Whirlwind“ von Transatlantic oder „One“ und „Sola Scriptura“ aus Neals Solo-Katalog. Ich gehe sogar soweit, dass „It’s For You“ das Zeug hat, in die TOP 5 aller Neal Morse-Songs einzusteigen. Hier schallt soviel Power, soviel Feingefühl, soviel Authentizität aus den Boxen, dass es schlichtweg beeindruckend und zutiefst berührend ist. Allein wegen dieses Tracks lohnt sich der Kauf von „Testimony 2“ für alle Fans des Amerikaners und Progrock-Sympathisanten.

Bisher unerwähnt blieb CD2, die drei weitere Songs enthält, welche keinerlei Verbindung zum Testimony-Konzept haben. Hier steht ein schlichter Standard-Rocker („Absolute Beginner“) neben einer wahnsinnig ohrwurmigen Seventies-Ballade („Supernatural“) und einem weiteren mehr als 20-minütigen Longtrack namens „Seeds Of Gold“. Dieser stellt CD1 qualitativ stellenweise deutlich in den Schatten und gewinnt ebenfalls den direkten Vergleich mit „So Many Roads“, dem 30-Minüter von „Lifeline“. Außerdem steuert hier niemand geringeres als Deep Purple-Gitarrist Steve Morse ein fantastisches Gitarrensolo bei. Übrigens: Auch Paul Bielatowicz, der sich als Tourgitarrist der Carl Palmer Band einen Namen gemacht hat und seit längerem Bestandteil der europäischen Neal Morse-Liveband ist, hat sich wieder mit zwei sensationellen Gitarrensoli auf CD1 verewigt – immer wieder ein absoluter Hörgenuss!

Was bleibt unter dem Strich? Ein Album, das wieder vielseitiger und progressiver ist als „Lifeline“ und das Neal Morse-Fans ohne zu zögern allein schon wegen des genialen „It’s For You“ einpacken sollten. Neal ist ein sehr stimmiger Nachfolger zu „Testimony 2“ gelungen, mit schönen Rückbezügen auf den ersten Teil. Kraftvoll, energiegeladen rockend und gut unterhaltend, allerdings ohne echte Neuerungen, wie sie „Sola Scriptura“ einmal bot. Produktion und Artwork sind wie gewohnt hochklassig und in der Limited Edition erhält der wissbegierige Fan zusätzlich auch noch eine mehr als einstündige „Making Of“-DVD zum Album dazu.

Das Motto lautet also wieder einmal: Qualitativ gewohnt hochwertige Fan-Vollbedienung mit weit mehr als einem Ohrwurm. Mission erfüllt. Wenn da bei mir nicht der fade Beigeschmack wäre, dass Herr Morse schon einmal authentischer und ansteckender war. Meiner Meinung nach ist das der größte Kritikpunkt, der hier anzubringen ist. Und es ist einer, der schmerzt.

Wertung: 8.5 / 10

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