Review Neànder – Eremit

Irgendwann vor ein paar Jahren muss es gewesen sein, dass ein paar fesche Hardcore-Hipster in einer düsteren Ecke des Metal den Sludge gefunden haben. Der hat zwar eher nach Schweiß als nach Bartöl gerochen und ihnen dann auch erst einmal ordentlich ins Gesicht gerülpst, sie in seiner langsamen, aber kraftvollen Art dennoch irgendwie beeindruckt. Also haben sie sich angefreundet, und seitdem gehen sie gemeinsam durch die Welt (und zum Barbershop und danach zum Vietnamesen).

So oder so ähnlich geht das Märchen vom modernen Sludge – aber (wie so oft) hat es einen wahren Kern: War Sludge dereinst die Musik der dicken, (unironisch) vollbärtigen, biertrinkenden Kerle aus den Südstaaten, prägen ihn heute Bands, die aus der so jungen wie kessen Post-Hardcore-Szene kommen und Sludge einfach noch langsamer, noch heavier und damit eben: sludgiger spielen wollen. Eine solche Band sind NEÀNDER aus Berlin. Erst 2017 gegründet, brachte das Quartett bereits mit dem selbstbetitelten Debüt ein düsteres und kraftvolles Album heraus: ganz ohne Gesang, dafür mit schönen Arrangements und gefühlvoller Melodik – dem Element, das diese jungen Bands am meisten vom klassischen, dreckigen Sludge der Vorgängergeneration unterscheidet. Nun lassen NEÀNDER mit „Eremit“ bereits ein zweites Album folgen.

„Eremit“ ist mit knapp 40 Minuten etwas länger als der Vorgänger, bleibt aber im leicht konsumierbaren Bereich – zumal NEÀNDER das Album durchaus abwechslungsreich zu gestalten wissen: Zweieinhalb Minuten gehen für ein Atmosphäre kreierendes Intro drauf, ehe „Purpur“ mit sehr klassischem Stoner-/Sludge-Riffing loslegt. Vielleicht verweilt der Song sogar etwas zu lange im Traditionellen, ehe die Band nach etwa der Hälfte einen Ausbruch in fast schwarzmetallene Härte wagt. Spannender machen NEÀNDER es da in den folgenden zwei Nummern, dem Titeltrack sowie „Ora“, das dank der viel früher erwarteten Post-Hardcore-Elemente tatsächlich klingt, wie moderner Sludge eben klingt: im Wechsel wuchtig, eruptiv und melodisch.

Während „Clivina“ – ein Zwischenspiel auf unverzerrter E-Gitarre – zwar stilistisch Abwechslung bringt, zugleich jedoch etwas unmotiviert und ziellos vor sich hin klimpert, wird das finale „Atlas“ seiner tragenden Rolle durchaus gerecht: In stolzen 11:50 Minuten kommt hier alles zusammen, was NEÀNDER ausmacht, Motoröl-Sludge aus New Orleans und Bartöl-Melodik aus Berlin. Was fehlt, ist eigentlich nur Gesang. Warum eigentlich, möchte man NEÀNDER fragen (haben wir getan!). Denn natürlich funktioniert „Eremit“ auch prima ohne, wie auch die Instrumentaleditionen der Platten von The Ocean ohne Gesang funktionieren. Mit wären die Songs aber vielleicht trotzdem noch etwas emotionaler und dynamischer.

„Eremit“ bietet Sludge, wie er 2020 gespielt wird – wenngleich NEÀNDER dabei nicht ganz so forsch auf Modernisierung dringen wie andere Post-Hardcore-Sludge-Bands. Das dürfte Genrefans ohne Hardcore-Hintergrund den Einstieg erleichtern, macht aber noch weniger nachvollziehbar, warum sich die Band komplett gegen Gesang entschieden hat. In Sachen Melodik und Intensität verlieren NEÀNDER mit „Eremit“ gegenüber dem Vorgängeralbum leider etwas Boden. Damit ist „Eremit“ für Fans der Band zwar immer noch die Anschaffung wert, Neueinsteigern sei jedoch eher das Debüt empfohlen.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Wertung: 7.5 / 10

Publiziert am von

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert