Nine Inch Nails - The Downward Spiral Album Artwork

Review Nine Inch Nails – The Downward Spiral

Die frühen Neunziger waren eine schwierige Zeit für Trent Reznor: Das NINE-INCH-NAILS-Debüt „Pretty Hate Machine“ war zwar mehr als ein Achtungserfolg, aber Reznor wurde von der einschlägigen Presse eher als der nächste Posterboy und nicht als ernsthafter Musiker eingeordnet. Als Produzentenlegende Rick Rubin den Frontmann schließlich fragte, was seine Intention für das Nachfolgealbum sei, antwortete dieser: „Es verdammt nochmal fertig zu bekommen.“ Es erscheint mehr als logisch, dass dies die denkbar schlechteste Antwort auf die Frage ist, was Rubin auch umgehend zu Protokoll gab – aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wurde „The Downward Spiral“ eins der emotional glaubwürdigsten und intensivsten Alben des ausklingenden Jahrtausends.

Es lohnt sich, den zweiten Longplayer der späteren Industrialgötter von mehrfacher Seite aus zu betrachten: Inhaltlich/psychologisch und musikalisch/tontechnisch. Inhaltlich betrachtet ist „The Downward Spiral“ ein Zeugnis für die Lebensphase, in der sich Reznor 1993, als er das Album schrieb, befand: Irgendwo orientierungslos zwischen Depression, Manie und dem Anfang einer mehr als steilen Drogenkarriere, teilweise auch durch persönliche Enttäuschungen gefördert – so verließ Gitarrist Richard Patrick (seines Zeichens Frontmann der Band Filter und der Bruder von T-1000-Darsteller Robert Patrick) mitten im Produktionsprozess von „The Downward Spiral“ NINE INCH NAILS.

„The Downward Spiral“ ist ein Konzeptalbum: Es ist die Geschichte einer Person, die jeden einzelnen Aspekt ihres Denkens und Handelns unbeschönigt hinterfragt und sich selbst im Zuge der Suche nach einer Lösung völlig zerstört. Im Wesentlichen entspricht dies auch Reznors eigener Lebensphilosophie in dieser Zeit. Zwei der thematischen Eckpfeiler sind Glaube und Drogen und man muss kein Hellseher zu sein, um zu erkennen, dass das „The Downward Spiral“ mit dem letzten und mehr als legendären Song „Hurt“ kein Happy End bereithält. Vielmehr wurde das Album für Reznor zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, fand sich der Ende der neunziger Jahre schließlich hochgradig süchtige Musiker am absoluten Tiefpunkt wieder und verschwand nach der 1998er Tour zum drogengeschwängerten „The Downward Spiral“-Nachfolger „The Fragile“ erst einmal von der Bildfläche.

Produktionstechnisch ist bemerkenswert, dass der NINE-INCH-NAILS-Longplayer nicht in einem fancy Studio in den Hollywood Hills aufgenommen wurde, sondern in einem normalen Wohnhaus, welches Reznor zu einem Tonstudio mit Wohnmöglichkeit umfunktioniert hatte – 1993, an der Schwelle zur computerbasierten Musikproduktion, absolut keine Selbstverständlichkeit. Pikant war jedoch die Auswahl der Immobilie, handelte es sich doch um die Villa, in der Sharon Tate und ihre Freunde 1969 von der Manson-Familie umgebracht wurden – ein Umstand, für den Reznor sich auch vor Debra Tate, der Schwester des Mordopfers, rechtfertigen musste.

Trotz massiven Drogenkonsums und psychischer Probleme gelang es Reznor überraschend gut, seine musikalischen Visionen Realität werden zu lassen. Unterstützt wurde er dabei abermals von Mark „Flood“ Ellis, der auf Studioerfahrung mit Größen wie Nick Cave, Depeche Mode und U2 zurückblicken konnte. Waren an der Produktion des Vorgängers „Pretty Hate Machine“ noch über ein Dutzend Synth-Programmer, Tontechniker und sonstige Musiker beteiligt, war das Line-up von „The Downward Spiral“ überschaubarer: Neben Reznor selbst, der einen Großteil der Instrumentenspuren zu verantworten hatte, sind vor allem Ex-King-Crimson-Saitenhexer Adrian Belew sowie Reznors spätere Langzeitkollaborateure Chris Vrenna, Danny Lohner und Charlie Clouser mit von der Partie.

Die musikalische Bandbreite dessen, was auf „The Downward Spiral“ zu hören ist, ist groß: Harscher Industrial-Rock, tanzbare, poppigere Nummern und hochemotionale Soundcollagen geben sich die Klinke in die Hand. Trotz all dieser Unterschiede funktioniert das NINE-INCH-NAILS-Album ausgesprochen gut, sind hier doch erstmalig alle Trademarks zu hören, die Reznors Produktionen im weiteren Verlauf seiner musikalischen Karriere auszeichnen werden (z. B. der kalte Transistor-Sound der Gitarren, die charakteristische Verzerrung von Drums und Synthesizern oder auch die unterkühlt-zerbrechliche Gesangsstimme). Erwähnenswert ist noch die Tatsache, dass die eigentliche Aufnahme in den frühen Neunzigern noch bandbasiert war, obwohl bereits ein Mac-basiertes ProTools-System die MIDI-Steuerung der Synthesizer übernahm. Die Produktion ist unglaublich charakteristisch und nicht mit Begrifflichkeiten wie „transparent“, „dreckig“ oder „ausgewogen“ zu beschreiben – auch wenn all diese Adjektive zutreffend sind. „The Downward Spiral“ klingt einzigartig, verlangt dem Zuhörer aber auch einiges ab.

Aufgrund der hohen Varianz fällt es schwer, wirkliche Highlights zu benennen, gibt es auf dem Album doch keine Ausfälle zu verzeichnen – zumal „The Downward Spiral“ als Konzeptalbum verstanden und am Stück gehört werden möchte. Die Singleauskopplung „March Of The Pigs“ und der Albumcloser „Hurt“ (der später auch von Johnny Cash eindrucksvoll gecovert wurde) stechen jedoch ohne Frage heraus und ob es wohl einen Stripclub auf diesem Planeten gibt, in dem noch nie das explizite „Closer“ gespielt wurde, dürfte eines der großen, ungelösten Rätsel des Universums sein.

Ebenfalls unbeantwortet bleibt die Frage, wie sich Industrial-Rock und -metal ohne dieses Album entwickelt hätten. Zumindest kann man sagen, dass Reznors Protegé Marilyn Manson (laut dem NINE-INCH-NAILS-Sänger der Teilaspekt seiner Persönlichkeit, den er selbst nicht verkörpern kann) nicht so klingen würde, wie er vor dem Jahr 2000 klang – und mit ihm ein Großteil der Industrial- der Nu-Metal-Szene der damaligen Zeit. Dass Reznor genau diese Ära als aktiver Musiker verpasste und sich dem Drogenentzug und der Selbstfindung widmete, scheint des Lebens kleine Ironie und retrospektiv ein Glücksfall zu sein – wagte er doch 2005 mit dem großartigen Album „With Teeth“ clean und mit sich selbst im Reinen einen neuen Anlauf, welcher letzten Endes sogar in diverse Oscar-Gewinne für die beste Filmmusik („The Social Network“, „Soul“) münden sollte. So sollte jeder ernsthafte Musikfan mit einem offenen Ohr für Unkonventionelles dieses intensive Album hören, welches der vielleicht wichtigste Baustein in der Karriere eines der herausragendsten Musikers der Rock- und Metalwelt unserer Zeit ist.

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Wertung: 10 / 10

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