Review Spock´s Beard – Snow

Mit „Snow“, dem ersten und bisher einzigen Konzeptalbum von SPOCK’S BEARD, kündigte sich das an, was heute längst Realität ist: Erstmals finden sich auf einem Album von Neal Morse & Co. klar spirituelle, teils religiöse Lyrics. Damit ebnete das Doppel-Album den Weg für den Ausstieg von Bandkopf Neal Morse kurz nach der Veröffentlichung und bereitete die Progwelt auf die späteren religiösen Konzeptwerke des Ex-Spock’s Beard-Chefdenkers vor.

„Snow“ erzählt die Geschichte von John Sikeston, einem Albino, der überall aufgrund seiner seltsamen äußeren Erscheinung gehänselt wird und sich schnell den Spitznamen „Snow“ einfängt. Snow ist in einer hart arbeitenden, gläubigen amerikanischen Familie aufgewachsen. Doch er passt nicht in diese Arbeiterfamilie, fühlt sich seine ganze Kindheit über ausgegrenzt von seiner Familie und seiner Umwelt. Im Jugendalter erkennt er, dass er in die Seele anderer Menschen sehen kann, ihre Sorgen, ihre Probleme, ihre Wut besonders wahrnehmen kann. Doch er hält es geheim, bis er ein junger Erwachsener ist – aus Angst, wieder gehänselt zu werden. Irgendwann hat er eine besondere spirituelle Erfahrung und fühlt sich nach New York City berufen, wohin er wenig später aufbricht, um seinen Lebensweg zu finden („Stranger In A Strange Land“). Ganz allein. Nach kurzer Zeit trifft er einen schwarzen Jungen, der ihn hänselt und ihn in ein Nachtlokal zwingen will. Doch als er ihn dort hinziehen will, fühlt er, dass er mit John verbunden ist, John sehen kann, warum er ein solcher Junge geworden ist: Der Schwarze hatte als kleines Kind miterleben müssen, wie sein Vater zu Tode verprügelt worden war, was ihn für immer verändert und aggressiv gemacht hatte („Welcome To New York City“). Aber nun fühlte er sich von dieser Aggressivität befreit, geliebt und frei („Love Beyond Words“). Snow und der „Harlem Knight“ (wie der schwarze Junge auf dem Album genannt wird) verbünden sich und heilen andere kranke Leute in der Stadt, sie missionieren Drogensüchtige und andere Heimatlose auf der Straße. Schnell haben die beiden sehr viele Anhänger. (CD1)

Snow und der „Harlem Knight“ sind plötzlich im Rampenlicht und das erste Mal in ihrem Leben erfahren sie Aufmerksamkeit und Hingabe. Sie gründen eine Organisation mit dem Namen „The Touch That Heals“. Doch nach einiger Zeit wächst Snow diese Sache über den Kopf, er wird größenwahnsinnig („I’m The Guy“) Dazu kommt, dass er sich unsterblich in Carie verliebt, ein Mädchen, das ihn abgrundtief hasst und ekelig findet. Sie nennt ihn „Freak Boy“. Irgendwann berührt er Carie dennoch, um herauszufinden, was in ihr vorgeht. Dabei sieht er seinen Absturz: Vor seinem inneren Auge liegt er auf der Straße, verlassen, betrunken und beinahe todkrank. John dreht durch, hat Angst vor der Zukunft. Die Spirale in den Abgrund beginnt, seine Vision wird Wirklichkeit („I’m Dying“).Doch der „Harlem Knight“ und seine Anhänger schaffen es, ihn aufzurichten. Sie bringen ihn ins Krankenhaus und heilen ihn auf dieselbe Art und Weise, wie er sie am Anfang der Geschichte geheilt hat. Am Ende stehen sie an einem wundervollen Sommerabend zusammen und Snow entscheidet, dass er sich auf den Weg in die Ewigkeit machen wird, dorthin, wo sich Fluß und See treffen und wo der Himmel für ihn sorgt und er auf ewig geheilt ist…(„I Will Go“). (CD2)

Diese Geschichte weißt deutliche Parallelen zu Neals christlicher Entwicklung und Erweckung auf. Außerdem ist sie aber inspiriert von dem Film „Powder“, der in etwa die gleiche Leidensgeschichte erzählt. Allerdings hat der Albino dort die Fähigkeit, von Elektrizität angezogen zu werden und pure Energie kontrollieren zu können. Das führt ihn am Ende des Films, an einem Gewitterabend, per Donner in den Himmel der Ewigkeit.

Aber auch musikalisch ist „Snow“ Neuland für Spock’s Beard: Es gibt praktisch keine Longtracks mehr (von der versteckten „Freak Boy Suite“ auf Seite 2 einmal abgesehen), allgemein ist die Musik mehr denn je songdienlich, ohne simpel zu sein. Insbesondere auf Seite 1 gibt es im Prinzip keinen einzigen richtigen Progsong, hier finden sich viele Rock- und Popperlen. Durch mehrere wunderschöne Leitmelodien, die in der Overture zum Teil auch gleich zu Beginn vorgestellt werden, wird die Platte über ihre gesamte Spieldauer von insgesamt 115 Minuten sehr schön zusammengehalten. Zum Zeitpunkt des Erscheinens war „Snow“ aufgrund der vielen, für Spock’s Beard neuartigen Hardrock-Anleihen (hierzu höre man zum Beispiel „I’m Sick“ oder „Devil’s Got My Throat“) klar die härteste Scheibe der Band. Über allem thronen aber immer die wunderschön symphonischen Arrangements und Neals warme Wohlfühlstimme. „Snow“ ist insbesondere aufgrund seiner wundervollen Balladen bei Neal Morse-Fans beliebt. Noch heute spielt Neal Songs wie „Open Wide The Flood Gates“, „Solitary Soul“ oder „Wind At My Back“ regelmäßig auf seinen Konzerten oder Worship Services. Der symphonische Sound wird durch den häufigen Einsatz klassischer Instrumente wie Saxophon, Geige, Harfe, Klarinette oder Horn erreicht.

Nach den vielen Hardrock- und Balladenkrachern auf CD1 gibt es auf CD2 dafür öfters längere Instrumentalpassagen und frickelige Parts. Insgesamt ist diese Seite auch deutlich getragener und epischer. Mit Songs wie „Reflection“, „All Is Vanity“, und „I’m Dying“ stehen etliche wundervolle Kleinode bereit. Das die Jungs trotzdem noch Spaß verstehen, beweisen sie kurz vor dem Grande Finale „I Will Go“ mit den beiden Nummern „Snow´s Night Out“ und „Ladies And Gentleman, Mr. Ryo Okumoto On The Keyboards“. Ersteres hält einen extrem spaßigen Seventies-Discopart bereit, bei letzterem darf Ryo Okumoto noch mal besonders beherzt in die Keyboardtasten greifen. Schon lustig, einen Song mitten in einem Konzeptalbum so zu nennen, aber da Snow zu diesem Zeitpunkt der Geschichte mit seinen Freunden abends Party zu Ryo Okumoto macht, passt das schon.

Wenn es an diesem Doppel-Album überhaupt etwas auszusetzen gibt, dann, dass mit „4th Of July“ und „I’m The Guy“ zwei Songs dabei sind, die nicht so recht in die Stimmung des Albums passen wollen. Außerdem fällt auf, dass die Tracks „Carie“ und „Looking For Answers“ mehr schlecht als recht in den Gesamtkontext des Albums reingequetscht wurden. Diese Songs wurden von Schlagzeuger Nick d’Virgilio eingesungen und „Looking For Answers“ auch von ihm geschrieben.

Ich könnte hier noch lange darüber schwärmen, wie genial dieses Album ist. Musikalisch gibt es unheimlich viel zu entdecken, vor allem unheimlich viel Schönes. Leider wird nicht eins meiner Worte diesem Werk gerecht werden. „Snow“ ist mein absolutes Lieblingsalbum. Ich kenne jedoch viele Fans, die „Snow“ als schlechteste Spock’s Beard-Scheibe mit Neal Morse ansehen, sei es, weil sie nicht die Art von Musik vorfinden, wie es sie früher bei der Band gegeben hat (jene Prog-Achterbahnfahrt von Alben wie „The Light“ oder „Beware Of Darkness“) oder weil sich die religiöse Komponente der Scheibe – also ihre Texte – mit ihrer Einstellung zu Religion und Lyrics, die in Musik erlaubt seien sollten, sticht. Das akzeptiere ich und kann ich auch verstehen. Dennoch: Für mich ist dieses Album das emotionalste, herzlichste und echteste Werk, das ich kenne.

Für mich kam „Snow“ genau in einer Zeit heraus, in der ich viele persönliche Sorgen und Probleme hatte und in der ich mich aus eben diesen Problemen heraus für das Thema Religion interessierte. Da kamen mir diese Musik und besonders diese Texte gerade sehr recht, zumal zumindest ich aus ihnen nichts „Predigendes“ herauslese. Wenn überhaupt, kam das erst auf Neals Soloalben auf. Ich konnte mich in einigen Passagen der Geschichte durchaus wieder erkennen, bemerkte, wie wahr manches doch ist, was Neal über unsere Gesellschaft mit Hilfe von dem Albino Snow ausdrückt.

Alles in allem empfand ich „Snow“ als in sich stimmiges, genial komponiertes, wunderschönes und gefühlvolles Album, welches mich so einige Male in meinem Leben aufgefangen hat und mir Hoffnung und Kraft gegeben hat. Und so stehe ich dem Album auch heute noch gegenüber. Taucht einfach ein in diese Songs und diese Texte, diese wundervoll erzählte Geschichte, der man einfach anmerkt, dass sie jemand komponiert und geschrieben hat, der etwas ganz ähnliches in seinem eigenen Leben durchgemacht hat. Das Cover der Scheibe hat die Geschichte der Band dann auch schon symbolisch vorweggenommen…

Eine objektive Bewertung ist hier natürlich nicht möglich, ebenso gebe ich keine Anspieltipps. „Snow“ hört man bitte von vorne bis hinten durch!

Wertung: 10 / 10

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