Stream for me! – Oder: Gekommen, um zu bleiben

Ein Jahr Pandemie liegt hinter uns, ein Jahr (quasi) keine Live-Konzerte mehr. Und damit auch beinahe ein Jahr mit einem Format, das unter dem zuvor gänzlich ungebräuchlichen Wort „Streamshow“ firmiert: In leeren Hallen, Studios oder auch an extravaganten Locations stehen Bands, die sich beim Musizieren filmen lassen und diese Performance, meist gegen Bezahlung, im Internet übertragen. Die Meinungen über das „Konzerterlebnis“ vor dem Smart-TV gehen auseinander – Zeit für eine abwägende Betrachtung von Preis, Leistung und Zukunft der Streamshow.

Das Format

Dass eine Liveshow im TV nichts mit dem Erlebnis einer Liveshow mit Ellenbogen im Gesicht, Bier im Nacken und Tinnitus am Folgetag gemein hat, braucht man nicht zu diskutieren. Wenngleich schon hier angemerkt sei: Wer nicht die Statur oder den Kampfgeist hat, sich im Gerangel um die besten Plätze vor der Bühne zu behaupten, wer auch nur ein paar Zentimeter kleiner ist als der durchschnittliche Metalhead oder wer wohnortbedingt zu jedem Konzert umständliche Anfahrtswege hat, könnte durchaus versucht sein, in der Streamshow die bequemere Alternative zu sehen.

Doch während es beim Sport selbst für den eingefleischten Fan absolut normal ist, sich nicht jedes Spiel live im Stadion anzuschauen, sondern dem eigenen Team auch in der Fernsehübertragung (und das derzeit ebenfalls im Geisterspielformat ohne Stadionatmosphäre) zu folgen, scheinen viele Metalfans nicht gewillt, dem live gespielten, aber virtuell verfolgten Auftritt auch nur eine Chance geben zu wollen. Und das in der aktuellen Situation, in der der Standpunkt „lieber kein Konzert als ein Streamkonzert“ vergleichbar ist mit „lieber nichts essen als trocken Brot“. Vielleicht ist dieser ständig bemühte Vergleich zum Livekonzert auch das eigentliche Problem der Streamshow: Der weithin etablierten Live-DVD würde ja auch niemand mangelnden Schweißgeruch ankreiden. Fakt ist: Die Streamshow ist derzeit nun einmal die einzige Möglichkeit, neue Produktionen mit aktuellem Material zu erleben – und für Bands die einzige Möglichkeit, Konzerteinnahmen zu generieren.

Screenshot der Live-Stream-Show, Foto-Credit: Corey Taylor Stream

Der Preis

Während die ersten Streamshows 2020 meist gratis angeboten wurden, hat sich der Preis fürs Streamen mittlerweile im Bereich von 10–20 $ eingependelt. Schnäppchen, fairer Preis oder Wucher? Das Hauptproblem hier eine Frage der Perspektive: Nach wie vor sind wir gewohnt, Content im Internet vornehmlich gratis zu konsumieren. Im Vergleich zu einer Live-DVD, die oft genug auch nur einmal abgespielt wird, ehe sie im Schrank verstaubt, ist dieser Preis absolut im Rahmen. Verglichen mit einem echten Konzert um ein faires Maß reduziert, zumal der Preis ja „pro Haushalt“ gilt. Wer gemeinsam mit dem Partner – oder nach der Pandemie gemeinsam mit Freunden einen Streamabend verbringt, muss dafür pro Kopf kaum mehr als ein paar Euro einplanen.

Screenshot von https://illegalslive.com/

Die Leistung

Was man für sein Geld bekommt, ist von Angebot zu Angebot sehr unterschiedlich: Während die technische Qualität der Streams mittlerweile in der Regel keine Wünsche mehr offen lässt, ist längst nicht jede Band, die vor Publikum auf der Bühne überzeugt, auch in der Lage, vor der Kamera mitreißend zu performen. Hier spielt auch hinein, dass die gespenstische Stille zwischen den Songs – wie ja auch bei Geisterspielen im Sport – fraglos ein absoluter Stimmungskiller ist. Und auch der Faktor der Exklusivität fehlt: Während eine Live-Show eben nur den 500, 1.000 oder auch 10.000 Fans an diesem Abend in dieser Stadt vorbehalten bleibt, ist der Stream prinzipiell jedem Menschen auf der ganzen Welt zugänglich. So kindisch es auch sein mag, schmälert das halt doch den „Ich-war-dabei-Stolz“. Man sollte sich allerdings bewusst machen, dass das die Sicht des privilegierten Mitteleuropäers ist, der ganz bequem quasi jede tourende Band in der nächsten größeren Stadt live erleben kann.

Screenshot der Live-Stream-Show

Doch selbst für konzertverwöhnte Deutsche kann das Stream-Format einen echten Mehrwert bringen – wenn Bands das Konzept nämlich weiterentwickeln und seine Vorzüge komplett ausschöpfen: Ein Behemoth-Konzert in einer Kirche, Vreid oder Hexvessel live in der Natur: So wird der Livestream zu einem Erlebnis, das sich nicht mehr mit einem „echten“ Hallenkonzert vergleichen lässt – sondern eine gänzlich neue Erfahrung ermöglicht. Damit sind die Möglichkeiten des Formats längst nicht ausgeschöpft – im Positiven, aber auch im Absurden. Ob es zu jeder Stream-Show exklusives Merchandise braucht, darf ebenso in Frage gestellt werden wie die Sinnhaftigkeit eines virtuellen Meet & Greet, wie es etwa Korn zum Preis von 225 $ anbieten: „Here is your chance to have a private, personal conversation with all members of Korn! Each call will last approximately two minutes and you’ll receive a video of your M&G after the call, along with the opportunity to take pictures during your virtual conversation.“

Screenshot von https://kornlive.com/

Fast schon visionär hingegen mutet an, wie die Stream-Pioniere Leprous das Format nutzen: Ob die Idee, einen Dauerstream über sechs Tage anzubieten, um mit Fanbeteiligung einen Song zu schreiben (Metal1.info berichtete), für jede Band zur Nachahmung taugt, darf angezweifelt werden – dass Fans vieler Bands für solch tiefen Einblicke in die Studioarbeit ihrer Helden viel Geld zahlen würden, steht aber wohl außer Frage.

Die Zukunft

Dass das Konzept der Streamshow eine rein temporäre Angelegenheit ist, braucht jedenfalls niemand zu glauben: Sicherlich, für mittlere und kleine Bands dürfte der Aufwand nicht in sinnvoller Relation zum Nutzen sein – dass Bands wie Korn und Konsorten auf diese nun etablierte Möglichkeit, die eigene Reichweite zu erhöhen, nach der Pandemie wieder verzichten werden, ist aber höchst unwahrscheinlich. Viel eher wird zum „New Normal“ gehören, dass von großen Touren mindestens eine Show weltweit gestreamt wird – warum auch nicht. Nicht jeder hat schließlich das Geld, für exklusive Konzerte in andere Städte oder Länder zu reisen – und nicht jeder weiß den Becher mit – bestenfalls – lauwarmem Bier im Nacken zu würdigen.

Bis wir wieder die Wahl haben, sollten wir Streamshows als das begreifen, was sie sind: Kein Konzertersatz, aber eben doch mehr als eine Live-DVD – eben eine gänzlich neue, digitale Form der Interaktion zwischen Bands und Fans. Und wenn ihr lieb fragt, drückt euch eure Streamshow-Begleitung zwischendurch sicher auch mal unsanft den Ellenbogen ins Gesicht oder bringt euch für 5€ ein schlecht eingeschenktes, lauwarmes Bier im Plastikbecher aus der Küche mit. Einfach so, fürs Feeling.


Eine Übersicht der nächsten Stream-Shows findet ihr hier:

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5 Kommentare zu “Stream for me! – Oder: Gekommen, um zu bleiben

  1. Eine passende Umsetzung ist die „Live in the Mojave Desert“-Konzertserie. An 5 Terminen spielen Desertrock- und Stoner-Bands Konzerte in der passenden Umgebung zu ihrer Musik mit entsprechender Lichtshow. Verkauft wird das Ganze dann noch als Live-Album auf Vinyl.

  2. „Kein Konzertersatz, aber eben doch mehr als eine Live-DVD“

    Genau das seh ich leider nicht so. Ich schau mir lieber eine Live-DVD oder auch ein älteres Konzert auf Youtube an, bei dem Publikum anwesend ist und somit wenigstens ein bisschen Atmosphäre rüberkommt. Klar bei den Stream-Shows jetzt hat man eine aktuellere Setlist, aber das ist es mir nicht wirklich wert. Ohne Live-Feeling kann ich mir auch gleich das Album anhören.

    Versteht mich nicht falsch, ich habe auch schon ein paar Euro hingelegt um gerade kleine Bands bei ihren Streamshows zu unterstützen, aber mit einer ordentlichen Live-DVD kann dieses Format in meinen Augen niemals mithalten.

    1. @Kibbe: Naja, hier kommt es eben darauf an, was die Band draus macht. Wenn das ganze zu einem „besonderen“ Event umfunktioniert wird, das so nicht vor Publikum hätte stattfinden können – eben diese ganzen Shows in der Natur, in außergewöhnlichen Locations etc., dann finde ich das durchaus spannender als eine DVD, die mir nicht mehr bietet als das, was ich eben auch live erleben kann (wenn nicht gerade Pandemie ist und Konzerte möglich sind).

  3. Ich bin da echt zwiegespalten. Grundsätzlich fände ich ein Streamkonzert cool, mit dem ich eine kleinere Band direkt unterstützen kann. Das müsste gar nicht aufwendig gefilmt sein und ich brauche auch keine Lichtshow. So, dass die Band sich das bequem leisten kann und vor allem Plus macht. Völlig ausreichend wäre ein kleines Studiokonzert: eine Kamera in der Totalen, eine Kamera auf der Bühne für Nahaufnahmen der Musiker. Das könnte bestimmt der Großteil aller Bands stemmen. Das wäre etwas, wo ich gerne direkten Support leisten würde, meinetwegen so 15 Euro Beteiligung.

    Ich glaube, in der Metalwelt gäbe es genügend Fans, die ihren Favoriten auf diesem Wege für nette anderthalb Stunden Livemusik etwas Geld rüberschieben würden, weil ihr Tourleben einfach schon so lange ausfällt.

    Was ich hingegen nicht einsehe: Einer Multimillionen-Band wie Korn auch noch Geld hinterherzuschmeißen. Die spüren die Pandemie sicher weniger als der Großteil aller anderen Bands. Und trotzdem wird ein virtuelles Meet & Greet für über 200 Euro pro User angeboten. Wenn man sich überlegt, wie mühelos Videokonferenzen in den Berufsalltag integriert wurden, finde ich es wirklich armselig, was Korn da machen, insbesondere wenn man den vermutlich eher jüngeren Altersschnitt ihrer Fans berücksichtigt.

    Denn am Ende ist doch klar: Es geht nicht um das Erlebnis, sondern darum, der Band zu helfen, während dieser Zeit überhaupt ein bisschen was einzunehmen. Wenn mir nach einem Konzert ist, für das ich das Haus nicht verlassen muss, bekomme ich unglaublich viel gutes Material bei Youtube. Kostenlos. Dafür zu bezahlen hat doch in erster Linie mit Solidarität und Gutmütigkeit zu tun. Das ist doch nichts, wo man 15 Jahre später sagt „Da war ich dabei, von dieser Erinnerung zehre ich noch immer“. Es ist vollkommen unpersönlich, es sei denn eine Band grüßt von der Bühne aus ein paar Zuschauer, die zugeschaltet sind.

    Ich hoffe nur, dass die hohen Streaming-Standards der Majorbands die kleineren Gruppen nicht von vornherein entmutigen. Ich hoffe, sie versuchen es und ihre Fans werden sie darin bestätigen.

    1. @Andreas Althoff: Tja nun, das mit den bezahlten M&G ist ja immer so eine Sache. Speziell mit KORN habe ich darüber ja sogar mal in einem Interview geredet (https://www.metal1.info/interviews/korn-2017-ray-fieldy/) – und was ich von bezahlten M&G halte, habe ich mal in einer anderen Kolumen ausgeführt (https://www.metal1.info/specials/das-geschaeft-mit-dem-personenkult-oder-wie-aus-fans-vips-wurden/).

      Tatsächlich sehe ich den Support-Gedanken selbst gar nicht so zentral bei diesen Shows – ich will einfach unterhalten werden. Youtube hat mich als Plattform nie bekommen, dazu habe ich persönlich keine Verbindung, und ich stehe schon sehr drauf, eben auch mal neues Material „live“ zu hören. Insofern hatte ich etwa bei der Corey-Taylor-Streamshow (https://www.metal1.info/konzerte/corey-taylor-cmft-forum-stream/) durchaus Spaß und werde mir eventuell auch Korn reinziehen. Es muss halt was geboten werden, ich will unterhalten werden. Dann habe ich auch kein Problem damit, auch großen Bands für ein Spektakel einen angemessenen Betrag zu zahlen.

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