Interview mit Sharon den Adel von Within Temptation

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Nach einer ganzen Reihe Single-Veröffentlichungen haben WITHIN TEMPTATION nun doch noch, ganz traditionell, ein Album veröffentlicht. Mit Sängerin Sharon den Adel sprachen wir über dessen ungewöhnlichen Werdegang, die Gratwanderung politischer Texte und welche Rolle künstliche Intelligenz künftig in der Musikwelt spielen wird.

In den letzten Jahren habt ihr immer wieder einzelne Songs veröffentlicht, angefangen mit „Entertain You“ im Jahr 2020. Was hat euch dazu veranlasst, diesen eher ungewöhnlichen Weg einzuschlagen und einzelne Songs anstelle eines Albums zu veröffentlichen?
Anfangs war die Idee, einfach ein paar Songs für die Europa-Tour mit Evanescence zu schreiben. Wir dachten, okay, wir machen diese Co-Headline-Tour, wir müssen etwas Musik mitbringen, die die Leute noch nicht gehört haben, um ihnen etwas Besonderes, etwas Neues zu bieten. Das war der ursprüngliche Grund, neue Musik zu schreiben und sie in den folgenden Monaten zu veröffentlichen. Aber dann kam COVID und alle waren zu Hause und wir wussten nicht, wie lange das noch dauern würde. Und es dauerte viel länger als wir dachten. Also haben wir weiter Songs veröffentlicht, die wir geschrieben hatten. Darum gibt es jetzt so viele Singles. Und ja, um das Engagement unserer Fans auch für das neue Album aufrechtzuerhalten, mussten wir ihnen dann etwas mehr geben, als wir eigentlich geplant hatten.

„Es ist das erste Mal, dass wir ein Album
in Eigenregie veröffentlichen“

Aber es war von Anfang an euer Plan, ein Album zu machen und nicht den Hörgewohnheiten der Leute im Streaming-Zeitalter mit einem ganz neuen Konzept zu begegnen?
Es ist das erste Mal, dass wir ein Album selbstständig in Eigenregie veröffentlichen. Insofern waren wir uns da sogar während des Prozesses noch nicht ganz sicher. Wir haben uns gedacht: Mal sehen, was daraus wird. Vielleicht schreiben wir ein Album, vielleicht auch nicht. Wir haben unsere Meinung darüber in diesen Jahren ein paar Mal geändert. Letztendlich haben wir uns wegen unserer Fans entschieden, ein Album herauszubringen. Eigentlich wollten wir ein komplett neues Album schreiben, mit nur neuen Songs. Aber wir haben während der Pandemie eben diese vier Songs veröffentlicht, die wir wirklich mögen – da wäre es ein bisschen seltsam, wenn die nicht auf einem Album landen würden. Diese Rückmeldung haben wir auch sehr oft von unseren Fans bekommen – und es wäre ja auch wirklich komisch gewesen, wenn man als Fan vielleicht alles von der Band hat, aber diese vier Songs sind auf keinem Album zu finden. Also haben wir unsere Meinung schließlich geändert.

Du hast es angesprochen: Ihr habt für dieses Album euer eigenes Label gegründet, was ein großer Schritt ist, das bringt ja auch viel Arbeit abseits der künstlerischen Tätigkeit mit sich. Wertest du diesen Schritt aus heutiger Sicht nur positiv oder bereust du ihn auch in gewisser Weise, etwa, weil er doch mehr Arbeit ist als gedacht?
Beides. Es ist genau so, wie du sagst: Es gibt dir mehr Möglichkeiten, dich spontan zu entscheiden, deine Meinung zu ändern und sogar Dinge anders zu machen, als du vorher entschieden hast. Und du kannst veröffentlichen, wann immer du willst. Aber auf der anderen Seite ist es natürlich auch mehr Arbeit. Und das bedeutet, dass uns Zeit für die kreative Tätigkeit verloren geht. Aber wir haben ein Management und ein Vertriebsbüro, mit dem wir zusammenarbeiten. Insofern sind wir sehr zufrieden, und das hilft sehr. Aber natürlich muss man mehr Arbeit bewältigen, die nicht „kreativ“ ist – oder zumindest auf andere Art kreativ. (lacht)

Ist das Konzept der Band, die bei einem Label unter Vertrag steht, von der Zeit überholt? Sind Labels in einer digitalen Welt mit all den Möglichkeiten, sich als Band selbst zu promoten, obsolet geworden?
Ich denke, dass Metal im Vergleich zu einigen anderen Musikrichtungen sehr traditionell ist. Aber es ist gut, immer offen dafür zu sein, was in welcher Phase deiner Karriere für dich funktioniert. Wenn du eine junge Band bist, die gerade erst anfängt, ist es sehr gut, bei einer Plattenfirma zu unterschreiben, auch um zu sehen, was für Möglichkeiten es gibt … weil man am Anfang noch nicht alles weiß. Auf diese Weise konnten wir im Laufe der Jahre sehen, was die dort gemacht haben und daraus lernen – oder eben auch andere Entscheidungen treffen: Jetzt, wo wir die Möglichkeit haben, es selbst zu tun, würden wir bestimmte Dinge anders machen. Die Veröffentlichung der Singles war einer der Gründe für diesen Schritt. Ich glaube nicht, dass wir mit einer traditionellen Plattenfirma so viele Singles im Vorfeld eines Albums hätten machen können. (lacht) Für uns war es also wirklich gut. Aber ich denke schon, dass es für eine Newcomer-Band gut ist, für ein oder zwei Alben bei einem Major oder einem kleinen Label zu unterschreiben und aus dieser Zeit zu lernen und herauszufinden, wie man es vielleicht anders machen kann, wenn man einmal in der Lage ist, unabhängig zu sein.

Ja, das klingt vernünftig. Habt ihr Pläne, irgendwann auch Alben von anderen Bands über euer Label zu veröffentlichen? Also vielleicht auch für Newcomer-Bands?
Im Moment ist es hauptsächlich für uns selbst. Und die Sache ist die, dass wir immer noch herausfinden müssen, wie wir die Dinge angehen wollen und was am besten funktioniert. Aber vielleicht ist es eine gute Idee für die Zukunft. (lacht) Von einem Musiker kommend, der versucht, anderen Musikern zu helfen … Ich denke, das wäre auch eine schöne Art, unsere Zeit abseits unserer eigenen Musik zu verbringen.

„Ich hatte anfangs auch meine Zweifel,
wie wir das alles zusammenbringen sollen“

Zurück zu den Singles: Wie habt ihr dann aus diesen einzelnen Songs ein Album gemacht? Ich meine, normalerweise schreibt man das Material für ein Album in einem kürzeren Zeitraum und nimmt alle Songs auf einmal auf, damit das Album kohärent klingt, musikalisch und soundtechnisch. Aber in diesem Fall sind dazwischen Jahre vergangen. Habt ihr die Songs dann nochmal neu aufgenommen oder zumindest neu abgemischt und neu gemastert?
Das ist eine gute Frage, denn ich hatte anfangs auch meine Zweifel, wie wir das alles zusammenbringen sollen. Werden wir es neu mischen? Aber das haben wir dann nicht getan. Das Lustige ist, dass du natürlich WITHIN TEMPTATION bist, also ist deine DNA in jedem dieser Songs enthalten. Jemand, mit dem ich kürzlich ein Interview hatte, hat es sehr schön auf den Punkt gebracht, als er meinte, dass man die Veränderungen, die in den letzten fünf Jahren in der Welt passiert sind, mehr oder weniger in dem Album nachvollziehen kann, weil wir die gesellschaftlichen Themen aufgreifen, die Geschehnisse im Iran, den Krieg in der Ukraine und einige andere Themen, die sehr wichtig sind … Religion und die Abschaffung der Abtreibungsgesetze in bestimmten Ländern, was „Don’t Pray For Me“ ebenfalls inspiriert hat.
Man findet darauf also eine Menge Themen, die in den letzten Jahren, in denen wir die Songs geschrieben haben, ein großes Thema waren. In all diesen Stücken geht es um die persönliche Freiheit des Einzelnen – und darum, für sie zu kämpfen. Es fühlt sich an wie ein schweres Album, was es auch ist und es hat schwere Themen. Aber eigentlich ist es ein Schrei nach Freiheit. Es geht um Freiheit. Das Wort Freiheit ist der zentrale Teil, der in jedem Song wieder auftaucht. Und was die Musik angeht, denke ich, dass es wirklich gut zusammenpasst. Besonders wenn man eine Reihenfolge festlegt, wie wir es für dieses Album getan haben, finde ich, dass es wirklich sehr gut funktioniert. Aber ich hatte auch meine Zweifel, das muss ich ehrlich zugeben. Ich bin wirklich froh, dass es so gut geklappt hat … zumindest aus unserer Sicht.

Ich finde auch, dass es perfekt funktioniert. Ich habe mich nur gefragt, wie ihr das gemacht habt. Die Songs wurden also nichtmal neu gemastert, sondern so auf das Album gebracht, wie sie als Single veröffentlicht wurden?
Ganz genau, ja. Aber ich glaube, wenn es notwendig gewesen wäre, dann hätten wir das gemacht.

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Du hast bereits die politischen Aspekte des Albums angesprochen und dass wir die Entwicklung unserer Gesellschaft in den letzten Jahren in den Texten des Albums wiederfinden können. Wann hast du gemerkt, dass du zu diesen konkreten Themen Stellung beziehen willst? Oder war es ein Prozess, dass ihr erkannt habt, dass ihr mit den Texten für WITHIN TEMPTATION in eine politischere Richtung gehen wollt?
Ich würde sagen, wir haben schon mit „Resist“ begonnen, etwas offener über das zu sprechen, was wir in der Welt sehen und wovor wir Angst haben und was für Gefahren wir für die Gesellschaft und die Europäische Union, aber auch global betrachtet, sehen. Anfangs hatten wir ein bisschen Angst davor, weil es ein Minenfeld ist, über Politik zu sprechen: Es kann leicht passieren, dass man etwas Falsches sagt oder dass die Leute es falsch interpretieren – auch weil man von den Journalisten abhängig ist, die es etwa in eine andere Sprache übersetzen. Und hoffentlich verstehen sie, was man zu sagen versucht, und hoffentlich fassen sie es in die richtigen Worte. Denn es ist ein schmaler Grat. Deshalb haben wir uns früher davon ferngehalten. Aber jetzt werden wir älter und stellen fest, dass sich eigentlich nichts zum Besseren verändert hat – im Hinblick auf bestimmte Themen ist es nur schlimmer geworden … das Klima, aber auch der gegenwärtige Krieg. Russland versucht, sich in jede Wahl auf der ganzen Welt einzumischen, ob es der Brexit ist oder die amerikanischen Wahlen, sogar hier in den Niederlanden gibt es Beweise dafür, dass sie es versuchen … sie arbeiten an der Destabilisierung von Ländern, besonders in Europa.

„All diese Dinge passieren,
und sie sind ziemlich gefährlich“

WITHIN TEMPTATION 2022 live in MünchenAll diese Dinge passieren, und sie sind ziemlich gefährlich. Und wir haben das Gefühl, dass … wir haben diese Entscheidung nicht einmal „getroffen“, also in dem Sinne, dass wir gesagt hätten: Oh, wir werden das tun. Es war eher so, dass es allmählich passiert ist, dass wir das Bedürfnis hatten, [dies zu tun]. Wenn wir anfangen zu schreiben, sprechen wir über die Welt und was passiert ist, was uns auf dem Herzen liegt, was uns verletzt hat oder was wir als beunruhigend oder frustrierend empfunden haben. Aber auch über gute Dinge. Man redet also darüber, und jeder spricht über seine eigenen Ideen dazu, und das landet irgendwie in deinem Kopf und in deinem kreativen Prozess. Und dann fängt man schließlich an, an der Musik zu arbeiten, hört ein bisschen Musik, und dann landet das irgendwie auf dem Album. Manchmal tut es das, manchmal nicht. Aber bei diesem Album kann man fast raushören, über welche Themen wir an dem jeweiligen Morgen gesprochen haben.

Ich finde das fantastisch – ich habe nämlich das Gefühl, dass es in der Metalszene nicht mehr sehr populär ist, als Band politisch zu sein. Ich glaube, das war früher anders, da gab es einen starken Sinn für Freiheit und Demokratie und dergleichen. Siehst du das auch so? Hat der Metal den Mut für politische Themen verloren?
Das ist eine gute Frage. Ich habe keine Antwort darauf, um ehrlich zu sein, aber ich habe auch schon darüber nachgedacht, warum das nicht mehr passiert. Ich kann natürlich niemandem in den Kopf schauen, insofern ist es schwer zu sagen, warum sich die Leute dagegen entscheiden. Vielleicht finden sie es nicht inspirierend, oder sie haben andere Dinge, über die zu schreiben ihnen wichtiger erscheint, was natürlich eine individuelle Entscheidung ist. Und wie ich schon sagte, es ist ein Minenfeld, also gefährlich, denn ehe man sich versieht, kann es sehr, sehr schnell nach hinten losgehen. Man muss also wissen, wovon man spricht. Und als Musiker bist du kein Experte. Niemand ist ein Experte. Das sollte man den Journalisten überlassen, den Leuten, die wirklich recherchieren. Aber auf der anderen Seite muss ich sagen, dass wir viel über diese Themen lesen. Und es ist nicht so, dass… Ich würde nie von mir behaupten, dass ich eine Expertin bin, also lasse ich diesen Disclaimer immer drin. Aber das ist das Schöne daran, dass wir in einer Demokratie leben und miteinander reden können, dass wir uns einig sein können, dass wir anderer Meinung sein können, und dass wir uns auch gegenseitig sagen können: Vielleicht hast du das falsch verstanden, vielleicht solltest du diesen Artikel lesen, weil er etwas ganz anderes zeigt! Wir haben so viele Formen von Informationen, die wir konsumieren können, aus denen wir lernen können, die wir beurteilen und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten können … all das ist in Ländern wie Iran und Russland nicht möglich.

WITHIN TEMPTATION 2022 live in München
Sharon den Adel mit WITHIN TEMPTATION 2022 live in München

Aber ich habe das Gefühl, dass viele Leute, in Deutschland oder sonst wo, das nicht mehr tun … sie glauben nicht an Wissenschaft und Journalismus und die Fakten, die sie liefern. Glaubst du also, dass Kunst, wie deine Texte, in gewisser Weise vielleicht sogar der bessere Weg ist, um solche Themen anzusprechen und die Leute neugierig darauf zu machen, was in der Welt passiert? Brauchen wir also politische Lyrik?
Ich denke, wir stoßen auf die gleichen Probleme: Wenn man „Ukraine“ sagt, denken alle: „Oh, nicht schon wieder“. Im Sinne von „Warum?“ … weil alle davon ermüdet sind. Aber die Art und Weise, wie wir versuchen, unsere Fans zu erreichen … vielleicht ist das auch die Art und Weise, wie der Journalismus das manchmal ein bisschen besser machen könnte: Also, die Sendungen, die ich hier im niederländischen Fernsehen sehe, sind eigentlich ziemlich gut – ich bin mir nicht sicher, wie es in Deutschland ist – aber es geht mehr um die Lebensgeschichten von Menschen. Dazu können die Leute eine Verbindung aufbauen. Wenn es nur um „einen Krieg“ geht, klingt es nicht sehr persönlich. Aber wenn man über jemanden spricht, der dort lebt, der vielleicht eine öffentliche Person ist, der früher etwas anderes gemacht hat, aber jetzt im Krieg kämpft … wenn man diesen ganzen Prozess von ein paar Monaten oder vielleicht einem Jahr miterlebt, wie sich sein Leben verändert hat, und wenn man das im Fernsehen sieht, tut das weh. Man wird Mitgefühl für diese Menschen empfinden. Ich denke, wir sollten diese Geschichten öfter erzählen: Wie es ist, in der Ukraine zu sein und das alles durchzumachen.

„Wir müssen die persönlichen Schicksale erzählen“

WITHIN TEMPTATION 2022 live in MünchenWir müssen die persönlichen Schicksale erzählen – ich denke, das ist der Weg, um mit den Menschen in Kontakt zu treten, die das Gefühl haben, dass der Krieg woanders stattfindet und nichts mit ihnen zu tun hat. Denn es ist keine schöne Sache, ständig davon zu hören und sich damit auseinanderzusetzen. Aber auf der anderen Seite, für euch … selbst von uns aus gesehen ist es noch nah! Für mich sind es nur zweieinhalb Stunden Flug nach Kiew, für euch in Deutschland ist es noch weniger. Es ist so nah an eurer Heimat. Und ich glaube, wenn Polen diesen Sonntag für die rechte Partei stimmt, wird das ein weiteres Land sein, das mehr oder weniger wie Russland sein wird [A. d. Red.: Polens Regierungspartei PiS wurde zwar stärkste Kraft, das Oppositionsbündnis konnte jedoch eine absolute Mehrheit erringen]. Dann geht es mit Europa in die falsche Richtung, denn dann hat man Polen, das sich mehr an Russland orientiert, und dann hat man noch die Ukraine, die vielleicht die Unterstützung der Verbündeten in Europa verliert. Und wir werden beobachten können, dass, wenn die Ukraine von Russland eingenommen wird, viele Länder langsam unter russische Herrschaft kommen oder zu diktaturähnlichen Ländern werden. Es wird weniger Demokratie geben, und es wird weniger Einheit in Europa geben, weil Polen wahrscheinlich aus der Europäischen Union austreten wird. Solche Entwicklungen sind also sehr gefährlich. Je mehr Länder zu Russland und seiner Mentalität überlaufen, desto näher rücken sie an uns heran. Und das ist sehr gefährlich. Ich glaube, bei euch stehen auch bald Wahlen an, oder?

Wir hatten zwar gerade einige Kommunalwahlen in Deutschland, aber nicht die gesamtdeutschen Wahlen zur Regierung. Die stehen erst in zwei Jahren wieder an …
Wir haben im Moment keine Regierung, wir müssen sehr bald wieder wählen. Und in Polen finden jetzt gerade Wahlen statt. In Slowenien haben sie gerade stattgefunden. Man sieht, dass es dort eine Verschiebung gibt, und das beunruhigt mich, um ehrlich zu sein.

Du hast die allgemeine Ermüdung für solche Themen schon angedeutet … habt ihr auch negative Reaktionen auf politische Songs von Fans bekommen, denen es nicht passt, dass ihre Lieblingsband jetzt politische Songs macht?
Ja, das haben wir! Vor allem in Ungarn, wo wir auch die Flagge für die Ukraine auf die Bühne gebracht haben. Es gab auch Beifall … es gab Leute, die es gut fanden und Leute, die es nicht gut fanden. In Ländern wie Frankreich oder Deutschland ist die Stimmung meistens positiv. Aber je mehr man sich der russischen Grenze nähert, also zum Beispiel in Ungarn, desto weniger wird es. Es hängt aber auch ein wenig von den jeweiligen Erfahrungen [der jeweiligen Nation] mit Russland ab: Es gibt auch Länder wie die Tschechische Republik, in denen die Reaktion auf die ukrainische Flagge eher positiv war, weil sie im Laufe der Geschichte selbst mit Russland zu tun hatten und deshalb gegen Russland sind. Es kommt also auf die Grundhaltung an. Man spürt es sofort, wenn man in einem bestimmten Land spielt: Okay, diese Gruppe ist größer als jene, und sie ist eher pro- oder antirussisch.

WITHIN TEMPTATION 2022 live in München
WITHIN TEMPTATION zeigen die Ukraine-Flagge 2022 live in München

Aber wir holen die Flagge jedes Mal heraus, um zu zeigen: Wenn Russland in euer Land einmarschieren würde – würdet ihr dann einfach sagen „Okay, kommt rein, trinkt eine Tasse Tee“? Oder würdest du für deine Familie, dein Haus, deine Freunde und natürlich dein Land kämpfen? Ich denke, das würde jeder tun. Wie können die Leute also sagen: Hört auf zu kämpfen, gebt ihnen einfach einen Teil eures Landes und lasst uns nicht weiter darüber reden. Das ist ein bisschen so, wie wenn wir in den Niederlanden zum Beispiel sagen würden – Belgien war vor vielen hundert Jahren ein Teil der Niederlande – also als würden wir sagen, OK, wir wollen nur Brüssel haben, den Rest könnt ihr behalten. (lacht) Wir werden niemanden verschleppen, wir werden niemandem mehr wehtun, gebt uns einfach Brüssel, und wir werden einfach so weitermachen, als ob es normal wäre. Das ist doch verrückt! So was macht man nicht! Es ist unfassbar, ich weiß nicht … es ist einfach frustrierend.

„Für mich ist es eher ein Schrei nach Freiheit“

Frustrierend“ ist ein interessanter Aspekt, denn genau darauf zielt die nächste Frage ab: Von „Mother Earth“ zu „Bleed Out“ ist es ein langer Weg, und es ist ein großer Schritt, die „Schattenseite“ der Welt nun in die eigene Kunst einfließen zu lassen … hast du manchmal Angst, dass eure Musik für eure Hörer, aber auch für dich selbst, einen bitteren Beigeschmack bekommen könnte?
„Mother Earth“ ist wahrscheinlich das fröhlichste Album, das wir je gemacht haben. Aber auch da geht es in einem Song wie „Deceiver Of Fools“ eigentlich wieder um Politik. Nur haben wir nie so viel darüber gesprochen, wie wir es hätten tun können und sollen, wenn ich so zurückblicke. Ich stimme dir bis zu einem gewissen Punkt zu, aber ich habe nicht das Gefühl, dass dieses Album ein sehr… es ist ein schweres Album und ein bisschen dunkel, aber es ist auch sehr kraftvoll und ermutigend. Für mich ist es eher ein Schrei nach Freiheit … als Empowerment für Menschen, Individuen, die sich hoffentlich durch die Musik bestärkt fühlen. Als ich jünger war, war meine Lieblingsband Nirvana. Wenn ich wirklich frustriert war, wenn ich wirklich traurig oder wütend war, aber auch wenn ich glücklich war, konnte ich mir ihre Musik anhören. Sie ist irgendwie, du weißt schon, total abgedreht und wirklich ausdrucksstark, und es ist natürlich eine andere Musik, aber vielleicht auch mit dem gleichen Feeling, weil sie energiegeladen und dunkel ist und „wraaaaah!“, verstehst du? (lacht) Und jedes Mal, wenn ich die Musik gehört habe, habe ich mir gedacht, okay, jetzt kann ich mit meinem Leben weitermachen. Ich habe mir das angehört, bin in meinem Wohnzimmer herumgesprungen und dann ging es wieder weiter. Ich denke also, dass das Album eher in diese Richtung geht, als dass es sehr dunkel und düster und ohne jegliche Hoffnung ist. Es steckt auch Hoffnung drin!

Das stimmt, es ist eher ermutigend als deprimierend, definitiv. An dieser Stelle ein Themensprung: Ich würde mit dir gerne noch über eure Visualisierungen sprechen. Ihr habt für euer jüngstes Video künstliche Intelligenz (KI) verwendet. Wie seid ihr überhaupt mit dem Thema KI für Videos in Berührung gekommen, und was reizt euch daran?
Ja, wir haben KI für das letzte Video verwendet, das wir gerade veröffentlicht haben, und für das nächste, das wir noch veröffentlichen werden. Es war so, dass wir an einem neuen Video gearbeitet haben, im Studio saßen und überlegt haben, was wir diesmal machen könnten. Ein bisschen gelangweilt waren wir auch … okay, noch ein Video, was machen wir diesmal? Und wie soll man bei diesem schweren Thema das ausdrücken, was man als Essenz rüberbringen will? Das ist bei der traditionellen Art, ein Video zu machen, sehr schwierig. Dann hat uns plötzlich jemand dieses TikTok-Video geschickt und gefragt: „Habt ihr das gesehen? Das wird die Welt verändern. Es wird … seht euch das an, das ist KI!“ Und wir waren überwältigt von den Möglichkeiten. Es war verrückt. Also kontaktierten wir den Typen, der das gemacht hatte, und sagten: Wir wollen mit dir arbeiten! Wir können kein traditionelles Video mehr machen, du hast das hier, wir werden das hier machen. (lacht) Und dann riefen wir unseren Videoregisseur an, und ich habe gesagt, OK, weißt du, wir haben über ein traditionelles Video gesprochen, aber wir wollen auch KI dafür verwenden.

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„KI macht nie das, was man will.
Meistens ist sie grauenhaft“

Wir haben also, vor allem für „Bleed Out“, ein ganz normales Video gedreht, wie wir es immer machen … es gab also Schauspieler, es gab eine Band … die ganze Crew, die normalerweise dabei ist, war auch dabei. Wir haben niemanden eingespart. Das hat es nicht billiger gemacht, sondern sogar teurer, denn KI macht nie das, was man will. Meistens ist sie grauenhaft. Wir haben anderthalb Monate gebraucht, um die Lippensynchronisation und alles andere zu filmen und die ganze Geschichte auf die Beine zu stellen. Und obwohl die Lippensynchronisation nicht perfekt ist, lieben wir das Ergebnis, weil es sich so sehr von all den anderen Videos unterscheidet, die wir bisher gemacht haben. Außerdem ist es eine neue Technologie, und das gefällt uns. Aber natürlich ist die Technologie auch immer der Gesetzgebung und den Gesetzen voraus, und wir haben das Risiko auf uns genommen, besonders in anderen Ecken, wo es gefährlich sein kann. Wir hoffen also, dass es bald entsprechende Gesetze geben wird. Damit jeder weiß, was er verwenden darf. Aber du weißt ja, die Technologie ist der Gesetzgebung immer voraus. (lacht) Ich glaube, die Regierungen arbeiten schon sehr hart daran, entsprechende Gesetze zu erlassen, während wir hier sprechen. Ich halte das für die industrielle Revolution unserer Zeit, denn natürlich werden die Menschen ihre Arbeit letztlich anders ausüben müssen. Und jetzt, wo der Geist aus der Flasche ist, kann man ihn leider auch nicht mehr zurückholen.

WITHIN TEMPTATION 2022 live in München
Sharon den Adel mit WITHIN TEMPTATION 2022 live in München

Da hast du definitiv recht. Inwieweit wird sich das auch auf die Musik auswirken? Ich meine, es gibt ja schon einige Album-Cover, die mit KI gemacht wurden. Jetzt haben wir Videos. Glaubst du, dass es auch AI-Metal-Bands mit Texten oder auch Musik von AI geben wird?
Ich war letzte Woche in einer Fernsehsendung, und der Moderator sagte: „Das musst du dir ansehen, Sharon.“ Und es war so eine japanische Pop-Girlband. Und dann sagte er: „Ach ja, all diese Mädchen sind nicht echt. Sie sind künstlich, aber die Musik ist echt.“ Es wurde also echt gesungen, von Menschen – aber die Menschen, die man sieht, sind nicht echt. Aber sie sahen sehr echt aus. (lacht) Ich war also wirklich überrascht! Offensichtlich werden die Leute also damit experimentieren. Und ich bin mir nicht sicher, wie gut das am Ende sein wird. Aber ich glaube, die Menschen wollen immer noch lieber eine echte Band spielen sehen und echte Emotionen haben als etwas, das aus dem Computer kommt. Obwohl auch das natürlich von einem Menschen gesteuert wird, denn hinter allem, was die KI auswählt oder was von der KI ausgewählt wird, steht ein Mensch. Ich weiß natürlich nicht, was andere tun werden – aber ich werde KI nie für Musik verwenden. Denn das ist für mich das Magischste, was es in meinem Leben gibt: In einem Moment gibt es keine Musik, und im nächsten Moment haben wir gemeinsam etwas geschaffen. Das ist jedes Mal der schönste Prozess, den es gibt. Deshalb würde ich niemals versuchen, KI dafür einzusetzen. Aber ja, ich weiß, dass die Leute, mit denen wir zusammenarbeiten, zum Beispiel die Regisseure und alle anderen Kreativen um uns herum, KI bereits in großem Umfang für alle möglichen Zwecke einsetzen. Sie ist da, und es ist schwierig, sie das zurückzudrehen und sie wieder rauszunehmen, denke ich.

Du hast gesagt, dass ihr es liebt, neue Technologien zu nutzen. Ich würde sagen, diese Begeisterung für Neues hört man im Sound von WITHIN TEMPTATION. Aber es ist nicht alltäglich, dass eine Band, die es schon so lange gibt, immer noch Lust darauf hat, jedes Mal etwas Neues zu machen. Was ist also euer Geheimnis? Was treibt euch an, euren Sound und euer gesamtes Band-Image immer wieder zu hinterfragen?
Ich denke, wir langweilen uns einfach schnell! Wenn wir also etwas gemacht haben, wollen wir danach etwas Neues machen. Das ist ein Grund. Außerdem können wir gar nicht immer dasselbe machen. Deshalb versuchen wir, immer wieder neue Dinge auszuprobieren … das wird auch in Zukunft so bleiben!

Vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche dir einen schönen Tag!
Ich danke dir vielmals für das Interview. Dir auch noch einen schönen Tag!

WITHIN TEMPTATION 2022 live in München
WITHIN TEMPTATION 2022 live in München

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Dieses Interview wurde per Telefon/Videocall geführt.

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