Review Dream Theater – The Astonishing

130 Minuten Musik, eine dystopische Science-Fiction-Story, ein ganzes Orchester mitsamt Chor – für ihr 13. Album schöpfen DREAM THEATER aus den Vollen. Es ist mit Abstand das aufwändigste und ambitionierteste Projekt ihrer Karriere. Die Messlatte ist klar: „The Astonishing“ muss sich an ihrem ersten Konzeptalbum „Scences From A Memory“ (1999) messen lassen.

Doch was da aus den Boxen schallt, entspricht so gar nicht meinen Erwartungen. Wer sich auf ein düsteres, atmosphärisch dichtes Progmetal-Meisterwerk gefreut hat, wird bitterlich enttäuscht: „The Astonishing“ ist kein Progmetal, es ist ein Rock-Musical – mit all dem Pomp, Kitsch und Schmalz, der dazu gehört. Betrachtet man zunächst nur die Musik, so hat man es hier überwiegend mit mehr oder weniger gelungenen, sehr süßlichen Powerballaden zu tun, die schnell ermüden und viel zu spannungsarm arrangiert wurden, um ein zweistündiges Konzeptalbum zu tragen. Als Bindeglied fungieren Piano und Streicher, die gefühlt jeden Song eröffnen und so jegliche Dynamik immer wieder im Keim ersticken. Klassische DREAM-THEATER-Musik – das heißgeliebte Instrumentalgewitter, die vertrackten Riffs und Wow-Momente – muss man mit der Lupe suchen. Das ist ernüchternd. So ernüchternd, dass es mir zu Beginn wirklich schwer gefallen ist, die erste CD durchzuhören.

Der Schlüssel zum Genuss liegt in der Story – und im Durchhaltevermögen: Ein solch langes Werk lässt sich nicht nach drei Hördurchgängen erfassen. DREAM THEATER verlangen dem Hörer seine volle Aufmerksamkeit ab. Das passt zur Geschichte, doch dazu später mehr. Nachdem sich der erste (gewaltige!) Schock gelegt hat, gewinnt das Album schnell mit jedem Durchgang. Die Einzelsongs wachsen zu einer Einheit zusammen, die von starken, wiederkehrenden Motiven getragen wird. Zwischen den Kitschwänden tun sich Ohrwürmer auf. Verfolgt man dazu die Story mit dem Booklet in der Hand, entfaltet die Platte plötzlich eine gänzlich andere Wirkung – und es wird auch klar, warum ein großes, dramatisches Finale fehlt.

Das Konzept von „The Astonishing“ weist durchaus die eine oder andere Parallele zu Rushs „2112“ auf und ist relativ schnell erzählt: Im Jahr 2285 leben die Menschen im Great Northern Empire Of The Americas in Armut. Sie werden vom kaltherzigen Herrscher Nafaryus (vgl. engl.: „nefarious“ – ruchlos) unterdrückt, der auch die Ausübung von Kunst – insbesondere Musik – verboten hat. Die einzige Musik, die die Menschen der Zukunft noch kennen, ist die elektronische Kakophonie der sogenannten NOMACS; der Noise-Machines, die auch in fünf Instrumentaleinschüben auf dem Album zu hören sind. Doch im kleinen Ort Ravenskill hat die Musikalität überlebt: Dort entdeckt Gabriel, der Held der Geschichte, sein Gesangstalent. Wann immer er ein Lied anstimmt, berührt er die Bewohner des Dorfes auf eine völlig unbekannte Art und Weise, was ihn schnell zu einer quasi-religiös verehrten Figur macht. Gemeinsam mit seinem Bruder Arhys, dem militärischen Anführer, wollen er und die Ravenskill-Rebellen der Herrschaft des Nafaryus ein Ende bereiten. Doch leider verliebt sich Gabriel unsterblich in Faythe, die Tochter von Nafaryus. Und außerdem wären da noch ein paar andere Figuren, darunter Prinz Daryus, Nafaryus‘ Sohn, der Gabriel und Arhys das Leben schwermacht. Klingt nach Hollywood. Klingt schmierig? Ist es auch.

Verfolgt man die Story bis zum Ende, wird schnell klar, warum die aggressiven, progressiven und metallischen Parts auf der Platte viel zu kurz kommen: DREAM THEATER haben sich zwar für ein dystopisches Grundsetting entschieden, dieses aber überaus handzahm und amerikanisch ausgekleidet. Die Handlung ist vorhersehbar, die Charaktere schematisch und blutleer und am Ende wird natürlich alles gut: Das Böse ist besiegt, Familienstreitigkeiten sind beigelegt, die Liebe gerettet – alles nur mit ein wenig Gesang!
Natürlich gibt es eine Klimax mit einer dramatischen Zuspitzung und folgenschweren Auseinandersetzung. Die wird allerdings relativ kurz und bündig abgehandelt. Statt aus dem Spannungsfeld von Gut und Böse eine (auch musikalisch) komplexe und packende Geschichte zu weben, dienen die Charaktere letztlich nur zur Vermittlung wichtiger Werte: In „The Astonishing“ geht es um die Liebe, um die Bedeutung von Familie und Gemeinschaft, um Frieden und den Glauben an eine Erlöserfigur. Wenn ihr mich fragt, klingt das alles sehr amerikanisch, sehr christlich. Dass Heilsbringer Gabriel seine Mitmenschen nicht mit Worten oder Taten, sondern mit Musik überzeugt, ist bei einer Band mit dem Selbstverständnis von DREAM THEATER genauso unumgänglich wie einleuchtend.

Ihr fragt euch, warum ihr trotz allem beim Hören das Booklet in die Hand nehmen solltet? Das hat den einfachen Grund, dass die insgesamt acht Charaktere allesamt von James LaBrie gesungen werden. Er bemüht sich redlich, jeder Figur ein eigenes Gesicht zu geben und macht seine Sache dabei sehr gut. Dennoch ist es nicht immer möglich zu erkennen, welcher Charakter gerade auftritt. Hier wäre der Einsatz mehrerer Sänger vermutlich die bessere Wahl gewesen. Auf der anderen Seite fördert das natürlich auch die Auseinandersetzung mit der Musik, was John Petrucci & Co. – wie wir jetzt wissen – ja sehr am Herzen liegt.

Was bleibt nun unter dem Strich übrig? Zunächst einmal die Erkenntnis, dass DREAM THEATER nach mehr als 30 Jahren Bandgeschichte noch einmal richtig mutig waren. Die Musik auf „The Astonishing“ ist mit nichts vergleichbar, das sie bisher gemacht haben. Im Gegensatz zum Vorgänger-Album „Dream Theater“ (2013) ist „The Astonishing“ kein Fanservice. Es ist ein gewagtes Werk, das vermutlich viele Anhänger abstrafen werden. Ich finde es stark, dass die Band ihr Ding trotzdem durchgezogen hat.

Ob man an „The Astonishing“ Spaß haben kann, hängt vor allem von der eigenen Erwartungshaltung und Offenheit ab. Ich gebe gerne zu, dass ich zunächst tief schlucken und mich erst durch den meterdicken Kitschteppich kämpfen musste, um Zugang zu „The Astonishing“ zu finden. Betrachtet man Story und Musik aller Kritik zum Trotz aber als das, was es ist, nämlich ein lupenreines Musical, so kann man auch mit diesem Album viele schöne Stunden verbringen. Ein wenig mehr Progmetal und ein paar Ecken und Kanten hätten der Scheibe trotzdem sehr gut getan.

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Wertung: 7.5 / 10

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5 Kommentare zu “Dream Theater – The Astonishing

  1. Rückblende vor gut 25 Jahren.
    Ein Kumpel empfahl mir DT und schnell wurde ich zum Die Hard Fan der fast 1. Stunde. Das wollte ich hören und frönte in den Folgejahren der Heavy Rotation und manch irrsinnigem Konzertbesuch.
    Jede Band hat das Recht sich zu entwickeln. Aber DT haben in den letzten Jahren viele Trademarks aufgegeben oder nicht mehr kultiviert, die sie seinerzeit auf den Proggipfel gehoben haben. Trotz vieler Enttäuschungen der letzten Jahre habe ich mich auf The Astonishing gefreut und ich habe dem Album eine echte Chance gegeben. Am Anfang noch recht flott ist nach einiger Zeit nicht mehr auszumachen ob man nun beim 17. oder 23. Song ist und bei jedem Durchlauf habe ich das Ende herbeigesehnt, Lautsprecher oder Kopfhörer. Story hin oder her, nix zum drin Versenken. Das mehrfach in Rezis angeführte 2112 dient hier nur bedingt als Vorlage, da es ganz andere Emotionen erzeugt. Da bewegt man sich, bei The Astonishing fällt man im Sessel zusammen. Mag ich nicht und kann man sich auch nicht schöner saufen. Zu offensichtlich der Versuch eine republikanisch gefärbte, am Ende Allerweltssaga zu erschaffen.
    Vor 3 Jahren bin ich mal kurz nach der Arbeit zu DT gegangen, 2:15 min. schönes Konzert, paar Highlights, guter Sound. Man geht nach Hause und am nächsten Tag wieder arbeiten. So ist DT heute, blutleer, emotionslos, technisch perfekt aber nicht mehr ergreifend.
    Schade drum.

  2. Über weite Strecken deckt sich mein Eindruck mit der Sebastians. Wobei ich beim ersten Druchgang bis Song 6 überaus positiv überrascht war. Leider wird das Album danach relativ schnell relativ langatmig.

    Meine Kritikpunkte:
    – das Musik ist über weite Strecken viel zu glattgebügelt, wenig emotional, fast klinisch sauber. Wie ein moderner Bau aus Glas und Beton, der vollkommen weiß ist und weder Ecken noch Kanten hat und keinerlei Anzeichen von menschlicher Benutzung aufweist.

    – was mich zur Geschichte bringt: Punkt 1: dieser Erlöserschwachsinn geht mir auch die Nerven, das Ende mit dem Sieg des amerikanischen Konservatismus setzt dem Ganzen ein uninspiriertes, fades Ende. Insgesamt sehr flach und kitschig. Die Guten hinterlassen überhaupt keinen Eindruck bei mir.

    – warum kann die Band keine Musik mehr schreiben, die von echten menschlichen Emotionen handelt. Auch Scenes war eine fantastische Geschichte, dennoch wurden durch die Geschichte Gefühle vermittelt und Themen behandelt, die mich über das Album hinaus beschäftigen konnten.

    – der schweigsame Herr am Bass geht, finde ich, vollkommen unter.

    – es fehlt an Härte. Auch wenn ich nie geglaubt hätte, dass mir nach den unstimmigen Evil-Portnoy Thrashern mal die Härte bei Dream Theater abgehen würde, aber hier fehlt sie.

    – da das Album und die Musik nur Sinn macht, wenn man das Album in einem durch hört, ist es mir zu lange. Ich habe selten Zeit, dass ich 2 Stunden am Stück konzentriert Musik höre. Hätten sie es auf etwa 90 Minuten gekürzt, denke ich, würde die Spannung auch leichter zu halten sein.

    Insgesamt gefällt mir das Album dennoch besser als der Vorgänger, das auch mit zeitlichem Abstand noch immer nichts hergibt. James ist zwar stellenweise überfordert, dennoch muss ich seine Leistung loben. Sehr variabel, oft auch verspielt und hundertprozentig bei der Sache („Lord Nafaryus“).

  3. Wow, besser kann man es wieder nicht beschreiben!

    Ich hatte mir vorgenommen, die Scenes so gut es geht vor dem ersten Hören aus dem Kopf zu streichen. Trotzdem gelang es mir nur kaum, aber ich vermute so ging es vielen Fans, also gerade denen, die die Scenes so vergöttern wie es bei mir der Fall ist.

    Für mich war es zu Beginn eher kein tiefes Schlucken, sondern mehr so ein Gefühl als würde ein Linienbus mit DT-Werbung mir gerade vor der Nase wegfahren. Kein atemberaubendes Intro a la Overture 1928. Keine abgedrehten und adrenalinfüllende Instrumentalteile wie in Fatal Tragedy oder Beyond This Life. Stattdessen kam genau was schon in der Kritik beschrieben wurde.

    Aber ja, auch ich muss DT für diesen Mut grundsätzlich loben. Schon immer habe ich mir das etwas andere Album von DT gewünscht. Also im Prinzip ein Album, wo keiner mit rechnet. Und ich denke genau das ist dieses Album. Es gibt durchaus auch schon einige sehr schöne Momente auf diesem Album, mit witzigen Ideen und schönen Klängen. Aber gerade auch viele sich fast schon zu oft wiederholende Motive, die einen schnell müde werden lassen.

    Vielleicht liegt auch der letztendliche Schlüssel in den Konzerten. Denn so ein Album wirkt mit Sicherheit erst so richtig auf der Bühne. The Equation Theater lässt grüßen.

    1. Danke, schön zu hören, dass es Dir auch so geht! Alle, mit denen ich mich bisher über das Album unterhalten habe, fanden es auch zu kitschig und spannungsarm. Auf das Konzert werde ich diesmal verzichten. Ich hatte mir noch kein Ticket gekauft, weil es nur Sitzplätze gibt und ich mir Dream Theater im Sitzen nicht vorstellen kann. Bin jetzt auch froh über diese Entscheidung. Statt es mir für fast 90 Euro live anzusehen, kaufe ich dann später lieber die Blu-Ray der Aufführung. :)

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