Review Hot Water Music – Live In Chicago

Eine Sache vorne weg: Wenn jemand diese Review liest, ohne HOT WATER MUSIC zu kennen, dann unverzüglich die Eselsmütze aufsetzen, ab in die Ecke und schämen. Danach: Eselsmütze abnehmen, ab in den Plattenladen und musikalische Allgemeinbildung in Sachen Punkrock nachholen. Wenn das erledigt ist, gilt es, die Geschichte der Band ein wenig in genaueren Augenschein zu nehmen: Nach sieben Studioalben entschieden sich Chuck Ragan, Chris Wollard, Jason Black und George Rebelo 2006 dazu, getrennte Wege zu gehen und rissen eine gigantische Lücke in das Genre emotionaler Rockmusik – nur, um diese selbst wieder zu füllen, als sich die vier Musiker 2008 dazu entschlossen, die Leidenschaft und Energie, welche HOT WATER MUSIC darstellt, wiederzuvereinen – eine Entscheidung die im 2012 veröffentlichten neuen Album „Exister“ einen bisherigen Höhepunkt erlebte. „Live in Chicago“ stellt das zweite Livealbum der Band dar, welches zurück in das Jahr 2008 geht und die beiden restlos ausverkauften Reunion-Konzert im Metro in Chicago festhält. Das Ergebnis ist ein umwerfendes Dokument, das ausnahmslos aus mitreißenden Hymnen besteht und die Energie und Leidenschaft der schweißtreibenden Konzerte von HOT WATER MUSIC perfekt einfängt.

Bereits der Einstieg in das Album zeigt, dass hier keine großen Worte nötig sind, um eine ganz besondere Stimmung zu erzeugen: Ohne Intro betritt die Band unter lautem Applaus die Bühne und klimpert ein wenig auf ihren Instrumenten herum, bevor Chuck Ragan sich beim teilweise von weit her angereisten Publikum bedankt und den Abend mit „We are HOT WATER MUSIC and we salute YOU!“ eröffnet. Der anschließende fulminante Einstieg in den Abend zeigt, dass die Produktion auf „Live In Chicago“ sowohl knackig und druckvoll ist, dabei aber auch den rauen und dreckigen Charme der Musik perfekt einfängt. Die Stimmen von Chuck Ragan und Chris Wollard, welche über die Jahre hinweg noch rauer geworden sind, verleihen den Klassikern eine ganz eigene frische Note. Ebenso gut eingefangen ist das markante Zusammenspiel von George Rebelo am Schlagzeug und Jason Black am Bass, welches der Musik von HOT WATER MUSIC seinen ganz speziellen Charakter verleiht und in diesen Liveversionen noch stärker groovt als bereits in den Studioaufnahmen. Bei all der Energie, die diese Musik transportiert, meint man förmlich zu sehen, wie der Schweiß die Gitarrenhälse hinunterläuft, sich die Adern in den Hälsen der beiden Sänger deutlich abzeichnen und das Publikum zu jeder Sekunde alles gibt.

Sicher, diese Zusammenfassung geht stärker auf die Atmosphäre und Energie dieses Albums ein, als auf die Songs an sich – aber muss man überhaupt noch ein Wort über die 30 (!) Songs verlieren, die „Live In Chicago“ auf zwei CDs präsentiert? Kann man die Leidenschaft in „Trusty Chords“ vom Erfolgsalbum „Caution“ überhaupt in Worte fassen? Die Singalongs in „Wayfarer“ irgendwie ausbuchstabieren? Die Energie von „No Division“ adäquat in Sprache übertragen? Die unvorstellbare Größe eines Songs wie „Turnstile“ überhaupt nur im Ansatz einfangen? Wie beschreibt man diese Stimmung, die entsteht, wenn in „Jack Of All Trades“ das Tempo gegenüber der Studioversion etwas angezogen wird und die Gitarren mit ihrem Klang dem Song beinahe eine neue Identität verleihen? Wenn Chris Wollard am Ende des Albums nach einigen Zugaben vollkommen ungläubig und überwältigt mit „Hard To Know“ noch einen letzten Song ankündigt? Spricht es nicht einfach für die Musik, wenn das Publikum in „220 Years“ oder „Manual“ einen lautstarken Chor bildet und die Band nahezu übertönt? Und vor allem: Reicht das jetzt an rhetorischen Fragen, um klarzumachen, dass man sich dringend den gesamten Backkatalog dieser Band aneignen sollte?

Leider konnten wir für diese Rezension keinen Blick in die DVD werfen, welche der 2CD-Version beiliegt, und einen Zusammenschnitt der zweiten Nacht in Chicago beinhaltet. Dennoch ist das auditive Erlebnis in diesem Fall bereits so groß, dass sich die Bilder dazu bereits vor dem inneren Auge geformt haben. Warum es nach all diesen Lobpreisungen dann keine volle Punktzahl gibt? Das liegt wohl ausnahmslos der Form geschuldet, denn ein Livealbum mit ausschließlich alten Songs kann – so unterschiedlich und energiegeladener diese im Vergleich zu den Studioversionen klingen – nicht das Erlebnis eines HOT WATER MUSIC Konzerts oder den Kitzel eines neuen Studioalbums ersetzen. Ich persönlich habe allerdings – neben „Wir wollen nur deine Seele“ von Die Ärzte – bisher noch keine bessere Liveplatte gehört. Und jetzt alle: „Live your heart and never follow.“

Keine Wertung

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