Review Nachtgeschrei – Aus schwärzester Nacht

Das zweite Kapitel der Frankfurter Folkmetaler NACHTGESCHREI beginnt ebenso sinnbildlich wie das erste: Trug das 2008er Debüt den vielsagenden Titel „Hoffnungsschimmer“, so tritt das Septett fünf Jahre später „Aus schwärzester Nacht“. Wie es dazu kam? Mit Sänger Holger aka Hotti stieg 2012 das Gesicht und die Stimme der Band aus, kurz nachdem Nachtgeschrei mit ihrem dritten Studiowerk „Ardeo“ und einer Support-Tour für Subway to Sally am Durchstarten waren. Nun folgt mit Album Nummer vier der Neuanfang mit Hotti-Nachfolger Martin LeMar (Mekong Delta, Tomorrow’s Eve) am Mikro. Und „Aus schwärzester Nacht“ erweist sich als folkrockiger Grundstein für die Zukunft.

Dabei dürfen alle alten Fans beruhigt aufatmen: Nachtgeschrei sind immer noch Nachtgeschrei. Die Arrangements und Instrumentalisierung mit ausgewogener Balance aus Sackpfeifen, Flöten, E-Gitarren und Schlagzeug ist erhalten geblieben und erstrahlt auf „Aus schwärzester Nacht“ im bekannten Glanz. Sinnbildlich dafür steht der rockige Anfangsteil mit „Sirene“, „Flamme“ und „Spieler“, ebenso wie das instrumentale „Na Sdorowje!“. All diese Songs zünden beim ersten Hördurchgang und punkten durch druckvollen Rocksound und Eingängigkeit. Andere Lieder wie „In meinen Liedern“, „Für alle Zeit“ und „Am Ende der Zeit“ benötigen (nicht nur wegen der teils zu ähnlichen Titel) etwas länger, um ihre Stärken und ihr gesamtes Potential zu entfalten. Dafür fehlt auf Dauer besonders an der Textfront der Wow-Effekt. So prägt sich eher die Musik als die textliche Grundlage ein. Und die Musik ist durch und durch Nachtgeschrei – mit gänzlich anderer Stimme.

Bereits zu Beginn des Albums beweist Neu-Sänger Martin seine Stärken: Seine Stimme verfügt über die nötige Power und Variabilität, um dem folkrockigen Soundteppich ordentlich Wumms oder wahlweise die nötige Melodik zu verleihen. Besonders stellvertretend gerät dafür „In meinen Liedern“. Über das gesamte Album verteilt wagt sich der neue Fronter an anspruchsvolle Passagen, die er teils hochklassig meistert. Lediglich die parallel zu seinem Gesang instrumental spartanisch gehaltenen Balladen wie „Ungebrochen“ und „Unter deinem Licht“ sind noch nicht auf dem Niveau, wie man es von Nachtgeschrei beispielsweise von einer „Reise zu den Seen“ kennt. Besser funktioniert hier das beinahe epische „Der Ruf“, da dieses Stück nicht alleine von Martin getragen wird, und das überraschend mit Gesang beginnende stakkatoartige „Als in dir nur Leere“ war, welches man in dieser Form von Nachtgeschrei bis dato nicht kannte.

Andererseits zeigt die Akustik-Version von „Herbst“, dass Martins Stimme nur eingeschränkt kompatibel zum Material der Vorgängeralben ist. Ein wenig erinnert dies an das Anette Olzon/Tarja Turunen-Phänomen bei Nightwish. Hier werden Nachtgeschrei an ihren etablierten Livekrachern feilen müssen, um diesen Stücken eine andere Identität zu geben, die fernab vom Pathos und der Gefühlsbetontheit eines Hottis liegt. Andererseits eröffnen sich dem Siebener durch die neue Stimmfarbe und das dominante Rockkleid möglicherweise neue Türen in verwandten Genres. Da verzeiht man es auch, dass sich mit „Am Rand der Welt“ ein Stück auf „Aus schwärzester Nacht“ geschlichen hat, welches keinerlei Mehrwert bietet. Die Orchesterversion von „In die Schwärze der Nacht“ ist hingegen eine nette Zugabe, die den soliden Titeltrack in einem neuen Gewand präsentiert.

Somit liefern Nachtgeschrei mit „Aus schwärzester Nacht“ ein folkrockiges Comeback mit kleinen Schwächen. Einerseits bietet das Septett damit aber ausreichend gelungene Songs, um ein ausführliches Bild von Martin am Mikro abzugeben, und offenbart andererseits viel Potential für weitere Taten, sowohl im Live- als auch im Studiobereich.

Wertung: 8 / 10

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