Review Nachtgeschrei – Staub und Schatten

Im antiken Rom entschied der Daumen des Cäsaren über das Wohl und Weh der tapferen Gladiatoren, die sich vor den Augen des blutrünstigen Publikums bekriegten. „Staub und Schatten“ lauten Proximos letzte Worte im Hollywood-Epos „Gladiator“. Gleichermaßen dient dieses Sprachbild als Titel für das fünfte Studioalbum der Frankfurter Folkmetaler NACHTGESCHREI. Und jeder Herrscher Roms wäre gut damit beraten, für dieses Album den Daumen nach oben zu recken.

Direkt der Einstieg „Monster“ verrät warum. Mit geballter folkiger Instrumentenflut und einem vielschichtigen Text im Stile von Dr. Jekyll und Mr. Hyde liefert das Geschrei einen der intensivsten, eingängigsten und am stärksten nach vorne marschierenden Folkrock-Songs der letzten Jahre. Die selbsternannten Grenzgänger zwischen Folk, Rock und Mittelalter machen dieser Bezeichnung aber nicht nur im Opener alle Ehre. Weder Rock- noch Pop-, Gothic- oder andere Allüren interagieren mit dem folkigen Klangkosmos oder schielen auf ein weiter gefasstes Publikum. Das bereits liveerprobte „Das Nichts“ sowie „Die wilde Jagd“ nebst kurzer Verschnaufpause und anschließendem Earcatcher im Refrain untermauern den fulminanten Start ins Album. Die erste echte Verschnaufpause ist wiederum gleichzeitig das ruhige Pendant zu „Monster“, nämlich „Lunas Song“. Im 3/4-Takt groovt der Song als Liebeslied mit Akustikgitarren angenehm unaufdringlich vor sich hin und zieht in seinen Bann ohne vor Pathos zu strotzen. Erst kollektives Feiern und Springen, dann ein langsamer Walzer und Lagerfeuerromanik. Die Kombination der Kontraste funktioniert perfekt – auch im Titeltrack „Staub und Schatten“, der die Gegensätze kompositorisch in einem Kernstück vereint.

Die Epik mit vermehrten Orchester-Sounds erhält später hörbar Einzug in „Staub und Schatten“, besonders im Abschluss „Schlaflos“ und in „Der letzte Tag“. Dies mag manchem Hörer zu viel des Guten bzw. zu überladen sein, doch der satte Sound und vor allem Martins hervorragende Stimme tragen auch diese Nummern. Den leichten Bezug des Albums zu epischer Filmmusik stellt wiederum „Kerberos“ als Intro für „Eden“ her. Mit Donner, Hundegebell, Glocken und Flöten leitet das Vorspiel sanft auf „Eden“ über. Eine Idee, die NACHTGESCHREI gerne weiter aufgreifen und verfeinern können. Gegen Ende hält „Staub und Schatten“ allerdings nicht ganz den Level des Anfangs, da die einzelnen Stücke etwas zu wenig Eigenleben verkörpern.

Dennoch ist einer Band ein Sängerwechsel selten so geglückt wie NACHTGESCHREI. Merkte man Martin bei „Aus schwärzester Nacht“ an, dass er sich zuerst noch in die bereits vordefinierten Stücke einfinden musste, so sind es dieses Mal besonders die Nummern aus seiner Feder, die nachhaltig für Eindruck sorgen. Mit „Staub und Schatten“ definieren sich die Südwestdeutschen als Einheit neu und festigen gleichzeitig ihre Ausrichtung. Fundiert zukunftsträchtig und gleichzeitig immer noch ein Hoffnungsschimmer.

Wertung: 8.5 / 10

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