Review Nachtgeschrei – Tiefenrausch

Nach Feuer, Nacht und Staub wenden sich NACHTGESCHREI nun zum allerersten Mal den Tiefen des Meeres zu. Das bereits sechste Album der Frankfurter geht nicht nur thematisch, sondern auch rein musikalisch immer wieder neue Wege. Zum titelgebenden “Tiefenrausch”  braucht es aber durchaus ein paar Anläufe – nicht jeder findet hinter den teils etwas zu sehr NACHTGESCHREI-typischen, teils überraschend unkonventionellen Songs sofort einen neuen Ohrwurm. Wer aber am Ball bleibt, kann hinter der einen oder anderen Nummer durchaus ein persönliches Kleinod entdecken.

Keine Frage, auf “Tiefenrausch” gibt es – trotz des Titels – keine wirklichen Ausreißer nach unten. Nicht nur ist das Album gewohnt hochwertig produziert und gestaltet, sondern auch kompositorisch hat die Band mittlerweile ein beachtliches, durchgehend konkurrenzfähiges Niveau erreicht. So sind selbst die sehr NACHTGESCHREI-typischen Songs auf dem neuen Album zwar nicht unbedingt ein Feuerwerk an neuen Ideen, aber dafür alle mindestens solide und gut durchdacht, und dabei niemals belanglos. So glänzen beispielsweise “Kämpf um mich” oder “Heldenmut” nicht mit mutigem Songwriting, vereinen aber die Paradedisziplinen der Folk-Metaller in Form von eingängigen Gitarrenriffs,  Melodieführungen, originellen Texten und perfekt dazu abgestimmte Folk-Instrumenten zu Songs, die wahrscheinlich nicht Bandgeschichte schreiben, aber live für ordentlich Stimmung sorgen werden. Letzteres gilt sicherlich auch für “Meilen unter Meilern”, eine kraftvolle Nummer mit großer Mitsing-Tauglichkeit, die zu den besten des Albums gehört und sich mit 80s-Vibe-Synthiemelodien sowie einem (leider sehr kurzen) Klavier-Outro vom Gros der neuen Songs abhebt.

Wer hauptsächlich nach neuen Eindrücken und eventuellen Veränderungen beim NACHTGESCHREI-Klanggerüst sucht, wird auf “Tiefenrausch” aber ebenfalls fündig. Hier sorgt auch Neuzugang Laui an der Drehleier und den Flöten für frischen Wind. Einige der Kompositionen haben kreative, neue Ansätze, versuchen sich an einer Neuinterpretation des eigenen Sounds, und können damit auch durchaus punkten. Leider wirken diese Stücke dadurch auch sehr zusammengesetzt, und oft wollen die (in sich geschlossen wirklich guten) Einzelteile einfach nicht so recht zusammenpassen. So hat “1000 Tonnen Stahl” zwar eine eingängige Strophe mit hoffnungsvollem Gründerväter-Text, das Pagan-Intro und ein Country-Mundharmonika-Instrumentalteil in der zweiten Hälfte in Kombination dazu wirken aber eher forciert als inspiriert. Unter einem ähnlichen Phänomen leidet “Mal mich schwarz”, das mit spannendem, schwarzromantischem Sprechgesang von Sänger Martin zu harten Gitarrenriffs aufwartet, aber im Refrain wieder in alte Schemata zurückrudert und nicht genug wagt, um einen gänzlich positiven Eindruck zu hinterlassen.
Abgesehen von solchen meinungsspaltenden Experimenten oder Stilentwicklungs-Wagnissen kann man NACHTGESCHREI jedoch wenig vorwerfen. Wer es hart mag, findet auf “Tiefenrausch” entsprechende headbang-geeignete Songs. Wer auf gut geschriebene Texte pocht, die trotz “Folk” im Genre-Namen nicht die Klischee-Themen bedienen, kann sogar bedenkenlos zugreifen. Und wer besonders die Balladen der Frankfurter schätzt, wird “Ich verstumme” und ganz besonders auch “Zurück” sofort ins Herz schließen. Einzig Fans der Instrumentalstücke gehen auf “Tiefenrausch” leer aus.

Warum es nun so seine Anläufe dauert, bis man sich in das Album so richtig reingehört hat, bleibt zumindest in Teilen rätselhaft. Vielleicht ist es das Highlight, das man auf “Tiefenrausch” vermehrt vermisst. Diese ein oder zwei Songs, die ein Album überstrahlen und zigfach auf Repeat gestellt werden, und auf die live sehnsuchtsvoll hingewartet wird. Dennoch spürt man eine deutliche Entwicklung der Band, die endgültig im Sänger-Zeitalter “Martin LeMar” angekommen ist und mit ihm zusammen die passende Richtung eingeschlagen hat. So ist “Tiefenrausch” bei Weitem kein Lückenfüller und wird sicherlich seine Fans finden, in die Annalen der weltweiten Folk-Metal-Szene wird es aber eher nicht eingehen. Was okay ist – schließlich ist die deutschsprachige Konkurrenz dieser Größenordnung gerade entweder in einer eigenen Neufindungsphase oder hat sich gänzlich umorientiert, sodass sich “Tiefenrausch” auch ohne das Prädikat “Album des Jahrzehnts” als Hoffnungsschimmer für ein Genre beweisen kann. Wenn NACHTGESCHREI also eines beweisen, dann, dass in dieser Musikrichtung noch lange nicht alles erzählt ist. Und dass es den Mut wert ist, diesen Weg weiterzugehen.

Wertung: 7 / 10

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