Interview mit Jan Hoffmann von Long Distance Calling

In Sachen Post-Rock führt inzwischen kein Weg mehr am deutschen Quartett LONG DISTANCE CALLING vorbei. Der neue Longplayer „Eraser“ bietet nicht nur ein spannendes inhaltliches Konzept (so ist jeder Song einer bedrohten Tierart gewidmet), sondern auch eine Referenzproduktion und vor allem großartige Songs, die sich maßgeblich vom Vorgänger „How Do We Want To Live?“ unterscheiden. Wir sprachen mit Bassist Jan Hoffmann über die Produktion der neuen Platte, Live-Auftritte in Corona-Zeiten und die Zusammenarbeit mit Greenpeace im Rahmen der Albumproduktion.

Herzlichen Glückwunsch zu Platz 5 der deutschen Albumcharts. Wie geht es Euch allgemein, aber auch im Hinblick auf die Reaktionen zum neuen Album?
Hey! Uns geht es gut, die letzten Wochen waren ein bisschen anstrengend, weil wirklich wahnsinnig viel los war, aber es hat sich gelohnt und wir sind von den Reaktionen wirklich überwältigt – sowohl seitens der Fans als auch der Presse. Danke dafür!

„Eraser“ bietet ein ausgesprochen interessantes Konzept, jeder Song ist einer bedrohten Art auf diesem Planeten gewidmet. Nachdem es davon mehr als neun gibt: Wie habt Ihr Tiere wie Faultier, Nashorn oder auch  Albatros letztendlich ausgewählt und welche musikalischen Elemente haben euch veranlasst, einen bestimmten Song einem bestimmten Tier zu widmen?
Ja, leider gibt es mehr als genug Spezies, die bedroht sind, wir mussten also sorgfältig auswählen. Wir haben versucht, ein wirklich großes Spektrum abzudecken, was die Lebensräume angeht. Auch im Hinblick auf die Tierarten: Die sollten sich möglichst stark unterscheiden, um die Artenvielfalt abzubilden. Außerdem sollten sich die Songs ja auch musikalisch unterscheiden, deshalb war es wichtig, da eine gute Auswahl zu treffen. Ein Faultier sollte natürlich anders klingen als ein Nashorn. Wir haben auch darauf geachtet, wie das Tier aussieht oder wie es sich bewegt. All diese Parameter sind dann ins Songwriting eingeflossen. Die Tiere leben unterschiedlich, bewegen sich anders … das haben wir alles in Musik übertragen. Ich denke, das ist uns ganz gut gelungen.

Das dem Faultier gewidmete „Sloth“ fällt nicht zuletzt durch den Saxophon-Beitrag von Shinings Jørgen Munkeby ein wenig aus dem Rahmen. Wie kam es zu der Zusammenarbeit?
Als wir angefangen haben, den Song zu schreiben, kam uns sehr schnell die Idee mit dem Saxophon. Das war irgendwie unumgänglich und naheliegend. Kaum ein Instrument versprüht so eine Ruhe und auch ein wenig Lethargie, was perfekt zum Faultier passt. Auf Jørgen kamen wir dann recht schnell, weil wir Shining als Band natürlich auf dem Schirm haben. Ich finde, der Song ist wirklich etwas sehr Besonderes geworden und passt perfekt in den Fluss des Albums.

Für das Video zum Titeltack  habt Ihr mit Greenpeace zusammengearbeitet. Wie sah diese Zusammenarbeit konkret aus und gab es noch weitere Synergien, die im Rahmen des Album genutzt wurden?
Wir waren in der Vergangenheit schon einmal mit Greenpeace in Verbindung, als es um ein Shirt ging, dessen Erlöse wir gespendet haben. Bei dem Thema lag es natürlich nahe, wieder Kontakt aufzunehmen. Sie haben uns mit Infos versorgt, Beiträge von uns geteilt und so weiter, wir haben dafür Petitionen geteilt und solche Sachen. Außerdem haben sie uns für das „Eraser“-Video Material zur Verfügung gestellt, das wir benutzen konnten. Bei Greenpeace arbeiten coole Leute und es macht immer wieder Spaß, etwas mit ihnen zu machen, weil da wirklich Experten am Werk sind, die wissen, worüber sie reden.

Schlussendlich sind Klimawandel und Artensterben alles andere als aufbauende Themen, vor allem, wenn man sich so eingehend damit beschäftigt. Zieht einen das – gerade im Rahmen einer Albumproduktion – auch mal runter, und wie habt ihr es geschafft, dem Album gegenüber trotzdem positiv gestimmt zu bleiben?
Natürlich schlägt es auf die Stimmung, wenn man sich mit dem Thema beschäftigt. Aber wir hatten so viel mit dem Komponieren zu tun, dass der positive Aspekt überwogen hat. Dieses Album zu schreiben war eine Herausforderung, aber es hat gleichzeitig wahnsinnig viel Spaß gemacht, weil es eine riesengroße Spielwiese ist.

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Der uns vorliegenden Promo lag auch ein Päckchen mit Blumensamen bei – eine coole Idee, wenngleich natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Wie kam es zu diesem ungewöhnlichen Gimmick und wird dieses auch Bestandteil der anderen Editionen des Albums sein?
Die Blumensamen liegen der Box-Edition exklusiv bei. Wir hatten die Idee zusammen mit unserem Label und Greenpeace während eines gemeinsamen Calls. Es passt perfekt zum Konzept und auch, wenn es nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, ist es ein schöner Stein des Anstoßes. Wir wollen damit zeigen, dass jeder etwas tun kann. Man muss nur vor seiner eigenen Tür anfangen.

„Eraser“ klingt wesentlich wärmer, analoger als das von elektronischen Spielereien geprägte „How Do We Want To Live?“. War diese Entwicklung von Anfang an beabsichtigt oder ein Zufallsprodukt?
Das war natürlich beabsichtigt. Gerade nach dem sehr elektronischen Vorgänger wollten wir, dem Konzept geschuldet, diesmal einen sehr natürlichen Sound. Das passt einfach perfekt zum Thema und wir wiederholen uns nicht gerne. Wir sind sehr stolz auf den Sound des Albums, sowas hört man heute kaum noch. Viel besser und authentischer kann man eine Platte nicht produzieren, Arne Neurand, der als Engineer am Start war, hat die Platte auch nahezu analog gemischt und einen unfassbaren Job abgeliefert. Man findet bei jedem Durchgang etwas Neues.

Das Album ist euer erster Release bei earMUSIC. Wie kam es zu der Zusammenarbeit und welche neuen Möglichkeiten eröffnen sich für Euch durch das neue Label?
Der größte Unterschied ist sicherlich, dass earMUSIC international arbeiten, was uns neue Möglichkeiten gibt. Wir hatten noch nie so viele Interviewanfragen und sie wollen unsere Musik auch außerhalb von Deutschland verbreiten. Gerade ohne Gesang gibt es da eigentlich keine Hindernisse. Sie haben uns von Anfang an mit einer Vision und einer Idee überzeugt, außerdem sind sie sehr gut aufgestellt und haben ein tolles Team.

Anfang 2021 kam Eure EP „Ghost“ heraus, rund anderthalb Jahre später mit „Eraser“ nun bereits der nächste Longplayer. Ist dies dem Umstand, pandemiebedingt nicht touren zu können, geschuldet?
Auf jeden Fall, das kann man einfach so sagen. Wir hatten sehr viel Zeit und haben das Beste daraus gemacht.

Im Mai 2022 konntet ihr dann doch endlich auf Tour gehen, ihr hattet auch dafür ein besonderes Konzept geplant und angekündigt – eine spezielle Licht- und Videoshow, Gastmusiker und besondere Locations – mit alledem wurde noch während der Tour geworben und entsprechen hatte das für Fans wohl Einfluss auf die Ticket-Kaufentscheidung. Zumindest in München fand die Show schlussendlich ohne Gastmusiker im Backstage statt in der Matthäuskirche statt. Wie kam es dazu, dass das ursprünglich geplante Konzept nicht umgesetzt werden konnte?
Unsere Promo-Agentur hatte uns das Live-Review geschickt, aber es war zum Glück das einzige Review mit einem negativen Beigeschmack. Wir hätten auch lieber die Tour genauso wie geplant 2020 durchgezogen. Aber dann kam eine Pandemie. Zu erklären, warum sich dann eine paar Dinge anders gestalten, war nicht notwendig. Wir, und auch die allermeisten Leute, waren froh, dass die Tour endlich geklappt hat. Unsere Crew hat hart dafür gearbeitet, die bestmögliche Show auf die Beine zu stellen. Wenn es für dich nicht ausreichend war, bitten wir dich natürlich um Entschuldigung und hoffen, im nächsten Jahr deine Erwartungen wieder zu erfüllen. Wir haben die Tour anfänglich mit Gastmusikern beworben. Die Tour wurde aber dreimal verschoben und fand dann fast zwei Jahre später statt, da kann man sich an einer Hand ab zählen, dass man Risiken minimieren muss. Das betrifft natürlich auch zusätzliche Crew-Mitglieder, die Geld kosten und im schlimmsten Falle etwas anderes hätten machen können, falls die Shows noch mal hätten verschoben und gar abgesagt hätten werden müssen. Nach drei Verschiebungen waren wir froh, dass es diesmal endlich geklappt hat. Außerdem gab es Videos zu allen Songs, eine sehr schicke Lightshow und auch Surround-Sound, der ausgerechnet auf der Show in München nicht dabei war, weil die Surroundboxen defekt waren und auf der Tour noch repariert werden mussten – so was kann einfach passieren. Ich finde, da muss man die Kirche auch mal im Dorf lassen und mit Kritik sparsam sein, die Leute und wir hatten einen fantastischen Abend, und das ist alles worum es geht. Es sind nun mal besondere Zeiten. Das mit der Kirche liegt nicht in unserer Hand, da hättet ihr beispielsweise mal bei uns nachfragen können. Die Kirche war zu dem Zeitpunkt nicht mehr frei und der lokale Veranstalter ist dann ins Backstage umgezogen, wir hätten auch lieber in der Kirche gespielt. Die Verlegung ins Backstage wurde im Vorfeld der Show angekündigt und war die alleinige Entscheidung des Veranstalters.

Nach wie vor ist es nicht leicht, auf Tour zu gehen: Viele Konzerte werden derzeit wegen schlechter Vorverkaufszahlen abgesagt, keiner weiß, wie es im Winter mit Corona und den Bestimmungen diesbezüglich aussehen wird. Wie geht ihr mit dieser Situation um, wie plant ihr das nächste Jahr?
Wir haben für Anfang 2023 eine Tour geplant, die wir auch bald bekannt geben werden. Ob sie stattfinden wird, liegt nicht in unserer Hand … wir werden sehen. Neben der pandemischen Lage ist aber sehr entscheidend, dass die Leute Tickets kaufen. Ohne Tickets keine Tour, so einfach ist es eigentlich – auch wenn man natürlich versteht, warum die Leute vorsichtig sind. Das ist klar. Es ist aber auch klar, dass ohne Planungssicherheit keine Touren stattfinden können, die kosten nämlich sehr viel Geld und ohne Vorverkauf ist es einfach viel zu riskant. Das sollte den Fans bewusst sein. Wir sitzen alle in einem Boot. Wir freuen uns auf jeden Fall sehr auf die Shows! Also Daumen drücken und Tickets im Vorverkauf holen!

Woran denkst du liegt es, dass Wacken oder Stadionkonzerte von Rammstein in Minuten ausverkauft sind, aber die Leute nicht mehr in die Clubs zu kleinen Shows kommen? Und was kann man dagegen tun?
Generell denke ich, dass alles, was Mainstream ist, natürlich besser funktioniert. Da geht es eher um ein Event als um ein Konzert im klassischen Sinne, dafür wird dann eher Geld ausgegeben. Außerdem sieht man auf einem Festival natürlich mehr Bands für sein Geld, das mag auch eine Rolle spielen. Das Geld sitzt aktuell auch nicht locker, das ist klar. Die Leute gehen auch weiterhin zu McDonalds und sparen sich dann vielleicht qualitativ bessere Sachen. Wir können nur hoffen, dass sich das irgendwann alles wieder einpendelt.

Vielen Dank für die Antworten und deine Zeit! Kommen wir zum Abschluss zu unserem traditionellen Brainstorming:
Ampelkoalition: Bunt, interessant, bisher noch mäßig erfolgreich und wenig charismatisch. Ist in der aktuellen Lage aber auch schwierig. Mir fallen wenige Regierungen ein, die so viele Krisen auf einmal zu bewältigen hatten, das muss man sehen und vor allem auch erst mal besser machen.
Dein aktuelles Lieblingsalbum: Peter Gabriel – „So“
Europa: Eine sehr schöne Idee, die aktuell auf die Probe gestellt wird.
LONG DISTANCE CALLING in zehn Jahren: Hoffentlich noch im Saft und weltweit unterwegs. Wir haben immer noch genau so viel Lust wie am Anfang und es gibt noch viel zu entdecken!

Publiziert am von und

Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
Zur besseren Lesbarkeit wurden Smilies ersetzt.

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