Juni 2007

Review Dream Theater – Systematic Chaos

„Revolution No. 9“ hätte es auch heißen können, das neunte Werk der Progressive Götter aus New York bzw. Kanada. Allerdings nicht wegen irgendeiner Affinität zu den Beatles. Der Fünfer wechselte das Label, erlebte zum ersten Mal seit langer Zeit, was es heißt, Promotion vom Brötchengeber zu erhalten, und überhaupt sollte diesmal alles ganz anders werden bzw. klingen als auf den nicht ganz unbenörgelten „Systematic Chaos“-Vorgängern. „Six Degrees Of Inner Turbulence“ bestand für viele aus zu ausgiebiger instrumentaler Selbstbeweihräucherung, andere warfen dem Werk vor, die Band sei an ihrem eigenen Anspruch gescheitert. „Train Of Thought“ war dem ein oder anderen dann doch etwas zu „straight“ und den alteingesessenen DREAM THEATER-Fans oftmals eine Spur zu heavy. Dann kam „Octavarium“. Die Melodien waren wieder da, aber dem unzufriedenen Prog-Fan war das ganze zu seicht bzw. ideenlos (siehe „The Answer Lies Within“). Und nun liegt Album Nummer Neun vor und die Prog-Welt fragt sich, was DREAM THEATER ihr noch zu geben hat. Bei dieser hohen Erwartungshaltung kauen wir das ganze Drama natürlich Stück für Stück durch.

Das Album eröffnet mit „In The Presence Of Enemies Pt. 1“; die ersten fünf Minuten des Songs bestehen aus einer instrumentalen Achterbahnfahrt, die alles bietet, was DT ausmacht. Irrwitzige Breaks, schöne Gitarrensoli, ein wie üblich völlig bekloppter Mike Portnoy und ein furioses Finale… soweit das Intro des ersten Songs. Dann hören wir, wie James LaBrie sich durch ein episches Stück voller Emotionen singt, das man in dieser Form seit „Images and Words“ nicht mehr gehört hat. Ein permanent präsenter Jordan Rudess und wiederholtes, sehr eingängiges Riffing machen den Song zu einem perfekten Opener für ein großartiges Album.

Weiter geht es mit „Forsaken“, der poppigsten Nummer des Albums. Beginnend mit einer schönen Pianomelodie entwickelt sich eine Halbballade, die die meisten DT-Trademarks vereint, inklusive eines ohrwurmigen Gänsehautrefrains, der live mit Sicherheit ein Mitsinger erster Kanone sein wird. Hervorzuheben ist noch LaBries Leistung bei dieser Nummer. So kraftvoll habe ich den Kanadier lange nicht mehr erlebt.

Als nächstes schießen mir knallharte „Oldschool“-Metallica-Riffs entgegen, und auch LaBrie klingt bei „Constant Motion“ vom Gesangsstil her stark nach James Hetfield. Derart thrashig klangen DT noch nie, und derart präsent war Mike Portnoys Gesang bislang auch nicht zu hören, er singt im Refrain eine sehr gute zweite Stimme und liefert sich in Strophe zwei ein herrlich aggressives „Gesangsduell“ mit LaBrie. Petrucci zeigt wie üblich, weshalb er besser ist als [beliebigen Gitarristen einfügen] und Jordan Rudess ist seit „Octavarium“ eine dritte Hand gewachsen. So heavy waren DT fast nie… zumindest nicht bis zu Track 4 dieses Albums.

Ein Riff, das mächtiger groovt als eine Flugzeugturbine mit Gesangsausbildung, Iron Mikes Bassdrum sollte eine Gefahrenzulage bekommen, völlig gestört klingender, verzerrter Gesang… „The Dark Eternal Night“ ist so hart und düster, wie es der Titel vermuten lässt. Portnoy und LaBrie singen fast permanent im verzerrten Gleichschritt und die dreieinhalbminütige Solosektion ist (wie immer) nicht von dieser Welt. Petrucci zeigt alles was er kann, und Jordan Rudess darf mal wieder jedes Tempo spielen, das ihm während der Aufnahme dieses Songs gerade gefallen hat. Umso überraschender ist, dass das ganze immer noch wie eine „runde Sache“ klingt, und der Ohrwurmrefrain dürfte auch den älteren DREAM THEATER-Fans sehr gefallen. Der Rest jedoch könnte auch von Fear Factory nicht besser klingen.

„Repentance“ ist im Gegensatz zu den Vorgängern „The Glass Prison“, „This Dying Soul“ und „The Root Of All Evil“ aus Portnoys AA-Zyklus ein völlig ruhiger, düsterer Song geworden. Der Anfang nimmt das „This Dying Soul“-Riff („I Wanna See Your Body Breaking“…) auf, aber weit und breit ist kein Verzerrer zu hören. Elf Minuten musikalische Hypnose, die von Pink Floyd nicht hätte psychedelischer klingen können. LaBrie singt, verschiedene Stimmen sprechen zeitweise dazu (Steve Wilson, Mikael Akerfeld), Petrucci darf ein langsames „Gilmoureskes“ Solo zum besten geben…das klingt in meiner Beschreibung nicht besonders interessant, hört sich aber alles andere als langweilig an. Etwas Derartiges hat man von DREAM THEATER bis dato noch nicht gehört, aber mir gefällt diese neue Seite des Traumtheaters ausgesprochen gut. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass einige Fans mit diesem völlig neu eingeschlagenen Weg ihre Probleme haben werden.

Auch „Prophets Of War“ wird viele Fans auf eine harte Probe stellen. Sehr elektronisch kommt diese stark von Muse inspirierte Nummer daher. Wer aber die Scheuklappen abnimmt und sich das ganze völlig objektiv anzuhören versucht wird merken, dass ihm fast ein hervorragender Hüpfer mit herrlichem Mitsingpart durch die intoleranten Gehörlappen gegangen wäre. Der Song erinnert ein wenig an „Never Enough“ von „Octavarium“, ist allerdings eine ganze Spur härter und der Refrain klingt deutlicher nach DT, als das bei der eben genannten Nummer der Fall war. Erwähnenswert ist noch, dass der angesprochene „Mitsingpart“ von 100 DT-Fans während der „Systematic Chaos“-Aufnahmen „eingebrüllt“ wurde.

Und nun zu den ganz großen Großtaten. „The Ministry Of Lost Souls“. Ein 15minütiges Epos, das seinesgleichen sucht – und wohl nie finden wird. Von einer wunderschönen, dramatischen Keyboardmelodie getragen eröffnet sich dem Hörer eine Welt aus Trauer, Schmerz und unglaublicher emotionaler Tiefe. Der Song beginnt mit einem etwas an „Octavarium“ erinnernden Gitarrenspiel, zu dem sich bald LaBries Gesang gesellt und dieser uns bittet, einer Reise auf die andere Seite des Styx (um musikalisch zu bleiben) beizuwohnen. Und sobald der hymnische Refrain ertönt, dürften die Gansehäute bis zur Decke gehen. Diese Nummer zeigt alles, was DREAM THEATER im Jahr 2007 ausmacht und wird zumindest dieses Album unsterblich machen. Bei allem Schwermut wird die instrumentale Meßlatte im Mittelteil fast schon unerreichbar hoch gelegt, nur um in einem großartigen Finale nochmals eine Atmosphäre zu erschaffen, die in jedem Menschen etwas bewegen muss. Es sei denn, er ist tot.

Das Album endet mit dem 16minütigen „In The Presence Of Enemies Pt 2“. Das alles klingt vom Stil her stark nach dem großen Bruder von Teil eins, aber hier ist alles böse, düster und dramatisch. Ein langsamer Beginn mit einem hymnischen Refrain geht in herrliches „The Glass Prison“-artiges Geschredder mit einer Prise „Endless Sacrifice“-Gitarrensound über. Die obligatorische instrumentale Keule schwingt wie üblich die Häupter der gesamten Konkurrenz weg, und im orchestral untermalten Finale zeigen DREAM THEATER mal wieder, wie man ein längst vergangenes Grundthema aus Teil eins musikalisch fortsetzt, ohne sich selbst zu kopieren. Ganz großes Kino.

Tja…ich selbst hatte mit einer Steigerung nach der (meines Erachtens nach) eher schwachen „Octavarium“ gerechnet, aber dass die Prog-Könige einen derartigen Hammer aus der Hose zaubern, dürfte so ziemlich jeden Fan aufs Extremste verzücken. Man nehme die Härte von „Train Of Thought“, die Leichtigkeit von „Images And Words“, die starken Melodien von „Awake“ und drücke diesen Haufen Akustikbrei Starkoch Paul Northfield in die Hand. Das Ergebnis ist „Systematic Chaos“.

Wertung: 10 / 10

Geschrieben am 6. April 2013 von Metal1.info

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