Review Tiamat – The Scarred People

„My health etc.. Doesn’t work anylonger. I say leave because I don’t claim anything Tiamat. If the other guys wanna continue, fine.. Go ahead.“ Mit diesen Worten verkündete Johan Edlund, seines Zeichens Chefcharismatiker der Düstermetal-Pioniere TIAMAT, im April 2014 via Facebook den Abschied von der Band, die er 1988 selbst gründete. Den Abschied von der Band, die mit zeitlosen Klassikern wie „Wildhoney“ oder „A Deeper Kind Of Slumber“ die floyd’sche Gilmour-Gitarre im (Extreme-)Metal überhaupt erst salonfähig machte und damit den Grundstein legte für großartige Werke wie Nachtmystiums Black-Meddle-Alben. Doch mittlerweile scheinen sich die Wogen im TIAMAT-Lager geglättet, die Gesundheit Edlunds sich wieder wesentlich gebessert zu haben. Und so künden bereits im Mai 2015 Worte wie „Working on new Tiamat songs. Best greetz from Johan & Roger. Have a great weekend sisters & brothers!” auf bereits genannter Social-Media-Plattform von der Rückkehr des altgedienten Frontmanns, der wohl letztendlich nie so ganz weg gewesen zu sein scheint. Wäre auch jammerschade gewesen! Denn erst 2012 fanden TIAMAT mit „The Scarred People“ nach einer ganzen Reihe eher mittelprächtiger Machwerke zu beinahe alter Stärke zurück.

Oberflächlich betrachtet klingen TIAMAT auch 2012 über weite Strecken in etwa so, als hätten die Sisters Of Mercy oder Fields Of The Nephilim an ihren Amps ungekannte Gainreserven entdeckt und ihre Musik um bizarr-hippieske psychedelische Untertöne erweitert. Die Gitarren kommen besonders in den Refrains herrlich fett aus den Speakern (in den Strophen wird meist geschmackvoll vor sich hin gegilmourt) und breiten der warmen, sonoren Baritonstimme Edlunds einen samtenen Teppich für die Rezitation von Versen über Düsternis und Spiritualität, über Liebe und Leiden aus. Apropos Liebe und Leiden: Dass ein Großteil der Lyrics leider keinen Originalitätspreis gewinnt und so manche Strophe nach dem Reim-dich-oder-ich-fress-dich-Prinzip funktioniert („Scattered all around//For the heavens to abound//And like the sweetest cream//With loveliness extreme//Emily went to play//On that sacred day“) ist zwar ärgerlich, sei aber in Anbetracht des mehr als überzeugenden musikalischen Inhalts der Scheibe vergeben und vergessen.

Bereits der Opener und gleichzeitig Titeltrack des Albums ist eine amtliche Nummer, die für TIAMAT-Verhältnisse ordentlich nach vorne geht. Ein straighter Gothic-Rocker, der ohne Experimente und unnötige Schnörkel auskommt. Nicht innovativ, aber höllisch catchy. Nicht besonders mutig, aber auf der Metalparty des örtlichen Gruftischuppens sicherlich ein Tanzflächenfüller. Das macht definitiv Lust auf mehr! Doch repräsentativ für „The Scarred People“ als Ganzes ist der Song keineswegs. In derartige Uptempo-Gefilde wagt sich die Band im weiteren Verlauf des Albums nämlich nur noch in den Titeln „Love Terrorists“ und „Thunder & Lightning“ vor. Insgesamt wirkt die Platte eher ruhig, gesetzt, melancholisch und bisweilen gar meditativ. Folglich sind es gerade die Momente der stillen, selbstreflexiven Introspektion in denen Johan Edlund die Pose des gezeichneten, aber nicht gebrochenen Rockers einnimmt, in denen die Scheibe letztlich zu Höchstform aufläuft. Das bedrohlich schwelende und mit düsterer Jahrmarktsstimmung versehene „384“, „Winter Dawn“ mit seinem wunderschönen Refrain oder der sehnsuchtsvolle, balladenhafte Closer „The Red Of The Morning Sun“ sind jedenfalls große Klasse, zeugen von Tiefgang und kompositorischer Reife. Als Albumhighlight kann man jedoch die bei den ersten Hördurchgängen noch recht unscheinbar bleibende Nummer „The Sun Also Rises“, in der TIAMAT ihren Idolen von Pink Floyd nahekommen wie selten zuvor („Comfortably Numb“ lässt grüßen! Man achte nur auf die wunderbare Leadgitarre!), ansehen. Einzig das ungewohnt optimistisch tönende, fast schon fröhliche „Messinian Letter“ fällt, wenn es auch an und für sich kein schlechter Song sein mag, ein wenig aus dem Rahmen.

Es bleibt also festzuhalten, dass es TIAMAT, die wohl sogar mancher Die-Hard-Fan zwischenzeitlich schon abgeschrieben hatte, mit „The Scarred People“ anno 2012 noch einmal gelungen ist, ein überraschend starkes, in sich weitestgehend stimmiges Werk auf CD bzw. Platte zu bannen. Ein Klassiker des Kalibers „Wildhoney“ ist dabei natürlich nicht herausgekommen. Dafür fehlt dann doch noch das letzte Quäntchen Atmosphäre. Doch vom besten TIAMAT-Album seit „A Deeper Kind of Slumber“ zu sprechen, erscheint keinesfalls unrealistisch. Fans melancholischen Düstermetals, bei denen es musikalisch auch mal etwas gemäßigter zugehen darf, sollten mit „The Scarred People“ eine Sammlung starker Songs vorfinden, die nur darauf warten bei Kerzenschein und einem Glas Rotwein entdeckt zu werden. Für besagte Zielgruppe kann demnach eine klare Kaufempfehlung ausgesprochen werden. Bleibt nur zu hoffen, dass es nicht nur mit Edlunds Gesundheit, sondern auch mit der kreativen Formkurve der Schweden weiterhin bergauf geht. Vielleicht erwartet die Metalwelt dann auf der sich anscheinend in der Mache befindenden nächsten TIAMAT-Scheibe wieder wirklich Großes?

Wertung: 8 / 10

Publiziert am von Nico Schwappacher

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