Interview mit Tobias Sammet von Avantasia

„A Paranormal Evening With The Moonflower Society“ – ein langer Albumtitel, hinter dem aber auch viel Bedeutung steckt. Das neunte AVANTASIA-Album ist ein persönliches und intimes Album geworden. Mit Mastermind Tobias Sammet sprechen wir nicht nur über die Entstehung des Albums und den aktuellen Zustand der Musikbranche: Sammet erzählt auch von für ihn schwere Zeiten in den letzten Jahren. Nachdem er diese – auch dank des neuen Albums – verarbeiten konnte, präsentiert er sich im Gespräch entspannt und bester Laune.

Hi Tobi, wie geht es dir dieser Tage?
Es könnte fast nicht besser sein. Ich habe eine schöne Platte, ich habe diesen Sommer schöne Konzerte gespielt, als keiner wusste, ob es nochmal Konzerte geben wird … Die Lage ist nicht komplett hoffnungslos.
(lacht)

Avantasia A Paranormal Evening with the Moonflower Society CoverartworkWas beim neuen Album gleich auffällt, ist, dass es intimer und kleiner als „Moonglow“ wirkt. Weniger theatralisch und breit, sondern eher etwas reduzierter. Würdest du mir hier zustimmen und kannst sagen, woher das kommt?
Ja, ich glaube das stimmt. In gewisser Weise kannst du nur so lange expandieren, bis es lächerlich wird. Das ist bei allem so, zu viel von allem ist giftig und wirkt kontraproduktiv. Ich versuche schon, epische Sachen zu machen und bombastisch zu sein. Ich habe in meiner Karriere mit Gospelchören und echten Orchestern gearbeitet, mit vielen Dingen und Elementen und habe auch manchmal versucht, „höher, schneller, weiter“ zu gehen. Aber ab einem bestimmten Punkt kannst du in dieser Richtung auch keine extremeren Gefühle und Emotionen mehr erschaffen und musst dann auch manchmal neue Wege gehen. Ich habe diesmal kürzere Songs geschrieben. Das kommt auch nicht von ungefähr: Gerade wenn du Live-Setlisten machst, merkst du erst, wie lang deine Songs sind. Du spielst auf einem Festival wie Wacken als Headliner, bekommst einen Zwei-Stunden-Slot und merkst, dass du nur 16 Songs einbauen kannst. Ich meine, Kiss würden in der Zeit 24 Lieder spielen und dann merkst du erst, wie lang deine Songs eigentlich sind. Ich möchte mich auch mal der Herausforderung hingeben, kurze, knackige, knappe Sachen zu machen oder etwas, das aufs absolut Wesentliche herunter kondensiert ist.

Und was ganz klar dazu kommt, wenn du sagst, es klingt persönlicher: Es ist auch unheimlich viel persönlicher. Ich habe immer persönliche Sachen gemacht. Bei diesem Album war ich in meinem Studio, das ich mir erst vor der Pandemie habe bauen lassen. Wir waren dann alle irgendwie eingesperrt und dann sitzt du zuhause in deinem Studio und hast unheimlich viel Zeit nachzudenken. Mir hat die Musik einfach geholfen, mich in eine andere Welt zu beamen. Ich habe mich total in die Arbeit gestürzt und Demos quasi auf einem weißen Blatt entwickelt und auch ausgearbeitet. Sehr detailliert ausgearbeitet, weil ich die Möglichkeiten hatte, weil mich das Ganze technisch fasziniert hat. All das, was ich über die Jahre in Studios gelernt und an Arbeitsmethoden aufgeschnappt hatte, konnte ich jetzt einfach selbst erfahren und mit dieser Erfahrung bei mir im Studio selbst arbeiten und davon zehren. Ich habe die Demos komplett aus dem Boden gestampft und lange sowie detailliert an ihnen gearbeitet. Dabei habe ich den Songs schon eine ganz klare Linie mitgegeben, bevor Sascha [Paeth, Gitarrist und Produzent bei AVANTASIA, Anm. d. Red.] sie überhaupt das erste Mal gehört hat. Sie waren da bereits unheimlich klar ausdefiniert, es steckte schon unheimlich viel von mir drin. Daran konnte man dann gar nicht mehr viel verbiegen. Ich habe fast alle Chöre, bis auf drei oder vier Songs, mit 80 Spuren selbst gesungen. Ich habe die Keyboards bis auf zwei Songs selbst aufgenommen. Ich hatte die Zeit, alles auszuprobieren. Eigentlich wie in den Anfangstagen, nur mit wesentlich mehr Erfahrungen und besseren technischen Mitteln. Ich habe nur einige Dinge weg delegiert und sehr vieles selbst gemacht, dadurch klingt die Platte total nach mir.

Sascha hat gesagt, es hört sich ein bisschen wie ältere Edguy und auch wie ältere AVANTASIA an, klingt aber auch wie AVANTASIA 2022 und man merkt, dass da unheimlich viel von Tobi Sammet drin steckt. Ich weiß nicht, ob Sascha das als Beleidigung oder Kompliment meinte – wahrscheinlich war es eine neutrale Beobachtung, aber ich bin glücklich damit.

Schön, dass man nach 30 Jahren sagen kann,
dass man eine eigene Handschrift hat

Da stimme ich zu, „The Inmost Light“ und „I Tame The Storm“ klingen zum Beispiel wieder mehr nach Old-School-Power-Metal. Der Sound erinnert an „The Metal Opera“ und damit stark an deine Ursprünge.
Ich habe das gar nicht so bewusst forciert. Ich bin der Erste der sagt „Ich lebe im Hier und Jetzt und kann die Vergangenheit nicht wiederholen.“ Ich will das auch nicht, aber meine DNA ist da drin. Das ist einfach so, das ist die Musik, mit der ich aufgewachsen bin. Ein Song wie „Paper Plane“ ist für mich genauso wichtig, oder auch „Welcome To The Shadows“, der irgendwie ziemlich weit draußen ist und musikalisch an ganz andere Dinge erinnert. Das bin genauso „Ich“ wie bei den alten Sachen. „Reach Out For The Light“ ist immer noch einer meiner Lieblings-Speed-Metal-Songs, die ich selbst geschrieben habe. Das ist in meiner DNA drin und da kann ich auch nicht raus.

Dass du „I Tame The Storm“ erwähnst ist ganz lustig, denn den Song finde ich eigentlich relativ modern, aber da ist es eben die Melodieführung. Ich kann nicht aus meiner Haut und will das auch nicht. Ich habe da Frieden mit mir geschlossen. Ich will das Rad nicht neu erfinden, ich will keine Musikgeschichte schreiben, der ganze Firlefanz ist mir völlig egal. Wenn ich Musik mache, bin ich mit mir im Reinen. Das ist eine der wenigen Situationen, in denen ich wirklich komplett entspannt bin, durchatmen kann, mich nicht erklären und mich auch nicht mit Erwartungen und Businessregeln auseinandersetzen muss. Da bin ich bei mir und dann passiert das einfach. Meine Trademarks scheinen da eben so drin zu sein. Bei „I Tame The Storm“ dachte ich eher, dass es sich vielleicht wie eine moderne Version von Iron Maiden anhört. Im Refrain kommen dann aber eben wieder meine Melodien durch und irgendwie klingt es dann doch wieder nach mir.

Schön, dass man nach 30 Jahren sagen kann, dass man eine eigene Handschrift hat. (lacht) Ich erkenne das jetzt auch fast immer. Wenn etwas im Radio läuft, dann weiß ich auch meistens „Oh, das könnte von dir sein … Ah, ist sogar von dir.“ Das ist tatsächlich lustig, ich habe es irgendwo auf einer Tour in einer Bar gehört. Da lief im Hintergrund ein Song und ich dachte „Geil, das hätte ich ganz genauso gemacht“ und dann war das was Altes von Edguy und ich habe gemerkt, dass ich das ja so gemacht habe. (lacht) Ich dachte schon, irgendjemand fängt jetzt an, bei mir zu klauen, aber dann war das mein eigenes Zeug.

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Wenn du sagst, du bist jetzt persönlich im Reinen mit dem Album und das bist genau Du, hast du zu dem Material dann noch mehr Bindung als zu deinen vorherigen Alben?
Das ist schwierig zu sagen. Jetzt im Moment auf jeden Fall, weil das Album viel näher an mir dran ist. Dazu möchte ich sagen, dass es kein Album gibt, mit dem ich emotionale Schwierigkeiten habe. Ich arbeite an einem Album, bis ich restlos glücklich bin. Ich habe immer das große Geschenk gespürt, dass ich das darf. Das ist ein Privileg. Ich habe mir das immer erlauben können. Auch aus finanziellen Gründen war es immer möglich, zu einer Plattenfirma zu gehen und zu sagen, dass ich noch nicht so weit bin. Ich konnte mit jedem Album gut leben und war auf jedes Album stolz. Deswegen möchte ich jetzt nicht auf „Moonglow“ draufhauen und sagen, das neue Album steht mir viel näher.

Da ich auch beim Songwriting viele Arbeitsschritte mehr übernommen habe, hat Sascha komplett fertige Demos bekommen. Da konnte er sich mit den Gitarren noch etwas einbringen, aber das war schon klar von mir ausdefiniert. Was das angeht, ist mir das Album schon sehr nah, aber ich könnte nicht sagen, dass es bei anderen Alben nicht auch so ist. Bei „The Scarecrow“ war Saschas Anteil riesig. Zu der Zeit war ich etwas orientierungslos. Ich hatte geile Songideen und zu ihm gesagt „Ich möchte AVANTASIA vielleicht weiterführen, lass uns mal was zusammen machen.“  Der Song „The Scarecrow“ würde ohne Sascha nicht ansatzweise so klingen, wie er klingt. Das gilt übrigens auf dem neuen Album auch für „Arabesque“, da hat Sascha auch einen ganz großen Anteil … Was ich sagen wollte ist, dass ich zu allen Alben eine gute Bindung habe und jetzt im Moment ist mir natürlich das Neueste das Nächste.

Avantasia Tobias Sammet
Tobias Sammet; © Kevin Nixon

Verständlich, du bist ja noch voll involviert in den ganzen Entstehungsprozess …
Genau, ich hab das Album jetzt auch schon ein paar Mal gehört. Ich höre mir das manchmal tatsächlich auch selbst an, mache mir ein Glas Wein auf und höre die Platte durch. Die kann man so schön durchhören, weil man nicht das Gefühl hat, die geht 80 Minuten, sondern eben 54 Minuten. Das ist schon nochmal was anderes als 80 Minuten „Moonglow“. Ich find das alles geil, aber da fängst du mit einem Zehn-Minuten-Song an, dann sind noch zwei Siebenminüter und ein Zwölfminüter dabei. Das ist schon harter Tobak und da bist du dann auch platt, wenn du das Ding einmal durchhörst. Bei der neuen Platte denkt man sich „Oh, schon vorbei? Möchte ich gerne nochmal hören!“ Das fühlt sich gut an und eher so ein bisschen wie „Vain Glory Opera“ [Edguy-Album von 1998]. Die Platten wurden ja tendenziell immer länger.

Das Album erzeugt beim Hören eine richtige Feel-good-Atmosphäre. Vielleicht liegt es an den kürzeren Songs, vielleicht an der Konzentration auf die Basis, aber es kommt wirklich genau so rüber.
Genau! Das fing bei uns bei Edguy auch relativ früh an. Ich glaube, die „Vain Glory Opera“ war noch relativ kurz [51 Minuten], dann kam „Theatre Of Salvation“ mit schon über 60 Minuten und dann ging das immer so weiter. Klar wurden die dann auch wieder etwas kürzer, aber bei AVANTASIA habe ich das mit der Länge dann übernommen. Die beiden „The Metal Opera“-Alben waren, glaube ich, 53 Minuten [jeweils 59 Minuten]. Dann ging das so weiter und die letzte Platte lief fast 80 Minuten mit Bonustrack und das ist dann schon starker Tobak.

Avantasia MoonglowDas stimmt, aber „Moonglow“ ist dennoch ein hervorragendes Album …
Ich finde die ja auch super, wenn ich mir die jetzt anhöre! Ich bin so stolz auf „Ghost In The Moon“. Das ist so ein großartiger Song, ich weiß gar nicht, wie ich das damals gemacht habe. Da sind echt geile Dinger drauf: „Alchemy“, „Ravenchild“, auch „Requiem For A Dream“ mit Michi [Kiske] … Wie gesagt, ich möchte die alten Sachen gar nicht schlecht reden und bin mit allem, was wir gemacht haben, glücklich. „Kingdom Of Madness“ [Edguy-Debütalbum von 1997] finde ich nicht ganz so gut, da war der Sound scheiße. Von AVANTASIA finde ich alles geil. Ich bin mit allem im Reinen und bei Edguy eigentlich auch fast mit allem.

Es muss nicht immer alles einen tieferen Sinn ergeben
und kann trotzdem sehr sinnvoll für das eigene Tun sein

Würdest du auch sagen, dass in den Texten viel Persönliches von dir drin steckt?
Ja, sehr viel. Auch, wenn die Texte viel mit Eskapismus zu tun haben und ich fantastische Geschichten erzähle. Das ist jetzt keine durchgehende Geschichte über elf Texte, sondern elf Kurzgeschichten, die alle in der gleichen Welt angesiedelt sind. Man könnte daraus auch einen Film machen, wenn man daran arbeiten würde. Nichtsdestotrotz, auch wenn es fantastische Begebenheiten sind und man die Texte auf verschiedenen Ebenen lesen kann, ist eine dieser Ebenen ganz zentral für mich. Das hat bei vielen Songs mit dem persönlichen Wunsch nach Freiheit zu tun und ist auch ein Stück weit Vergangenheitsbewältigung. Songs wie „The Inmost Light“ setzen sich mit Erwartungen auseinander, mit der Problematik, man selbst sein zu wollen in einer Welt, die einen zu etwas machen möchte, was man nicht ist oder sein kann.

„Rhyme And Reason“ setzt sich mit meinem Hang zum Hedonismus auseinander; dass nicht alles in der Welt der Erwachsenen einen Sinn ergeben muss, dass es deshalb aber noch lange nicht sinnlos für mich ist. Auch, dass es ganz wichtig ist, nicht immer die Sinnhaftigkeit im Erwachsenenmodus an die oberste Stelle zu stellen. Es muss nicht immer alles einen tieferen Sinn in der Welt der Erwachsenen ergeben und kann trotzdem sehr sinnvoll für das eigene Tun sein.

Songs wie „Arabesque“ und „Scars“ setzen sich auseinander mit dem Druck, unter dem ich jahrelang sehr gelitten habe. Ich habe gemerkt, dass ich an meine Belastungsgrenze gekommen bin und habe das ignoriert, so lange ich konnte. Aber irgendwann holt dich das ein. Das war zu der Zeit, als ich mit Edguy und AVANTASIA im Wechselspiel wie eine Maschine geliefert habe. Irgendwann konnte ich das einfach nicht mehr … nicht nur, weil ich überarbeitet war, sondern auch, weil vielleicht mal innerhalb von Edguy Sand im Getriebe war. Ohne dass wir uns in die Wolle gekriegt haben, aber manchmal hat man unterschiedliche Ansichten und es zieht nicht jeder am gleichen Strang, nicht jeder ist da auf der gleichen Linie und dann gibt’s manchmal auch Spannungen. Es ist auch nicht so, dass man jemandem was Böses will oder einander an die Gurgel geht … Wir sind befreundet, wir telefonieren und es ist alles gut.

Für mich wurde es in dieser schweren Zeit aber immer schwieriger. Ich hatte zu der Zeit auch Hörstürze und als ich angefangen habe, wie eine Maschine doppelt zu liefern, kam von draußen auch immer mehr Druck. „Warum macht der Sammet das nicht? Der Sammet muss das aber jetzt machen, er muss liefern! Diese Ratte konzentriert sich jetzt nur auf AVANTASIA!“ Meine Bandkollegen haben mir das nie so vorgeworfen, das wurde von außen an einen herangetragen und du hast gemerkt, es ist diese Erwartungshaltung da. Man hat selbst diese Geister gerufen, in dem man ein schnelles Tempo vorgegeben hat und man konnte dieser Erwartungshaltung, die man irgendwie an sich selbst gestellt hat und die auch andere gestellt haben, nicht mehr gerecht werden. In dem Moment wurden niedere Beweggründe angeführt, ohne dass jemand Rücksicht darauf nimmt, wie es dir vielleicht geht. Als Außenstehender kann niemand wissen, wie man selbst am besten funktioniert. Ich glaube, ich bin ein sehr rücksichtsvoller Mensch im Umgang mit meinen AVANTASIA- und Edguy-Kollegen. Ich glaube, das wird dir auch jeder bestätigen.

Es ist so wahnsinnig ungerecht, dass man solchen Druck von außen bekommt, obwohl man niemandem wehtut, sondern einfach nur das macht, was einen glücklich macht. Etwas, dass vielleicht auch andere Leute glücklich macht und das so gut es geht und rücksichtsvoll versucht, zu tun. Da musste ich aufpassen, dass ich nicht unter die Räder komme. Vieles davon habe ich in Songs wie „Scars“ und „Arabesque“ verarbeitet und deshalb ist es ein sehr, sehr persönliches Album. Nichtsdestotrotz muss man die ganzen Hintergründe gar nicht kennen. Man kann die Platte auch einfach in den CD-Player schieben oder auf den Plattenteller legen, eintauchen in diese Welt und elf wunderschöne Geschichten hören. Diese Platte ist für mich auf unheimlich vielen Ebenen sehr wichtig und sehr schön, auch wenn manche schmerzhaften Phasen meines Lebens darauf verarbeitet werden.

Es hat mir gut getan, dass ich plötzlich
aus der Verantwortung genommen wurde

Avantasia Tobias Sammet
Tobias Sammet; © Kevin Nixon

Hat dir da, so seltsam es vielleicht klingt, Corona auf eine Weise geholfen, runterzukommen, zurückzufahren und dich selbst mehr zu ordnen?
(überlegt) Mir fällt es schwer, Corona irgendetwas Gutes abgewinnen zu können oder zu wollen. Das fände ich respektlos gegenüber den Leuten, die nicht den Luxus hatten, mit einem gewissen Polster in diese Pandemie zu gehen. Ich war privilegiert und selbstverständlich war es mental trotzdem eine große Herausforderung, weil du weißt, dass alles auf dem Spiel steht, was dir heilig ist. Die Gesundheit deiner Nächsten und dein Beruf stehen auf dem Spiel, der ganze Musikmarkt ist im Arsch. Da kann man dem eigentlich nichts Gutes abgewinnen. Was ich aber gemerkt habe ist, dass es mir tatsächlich gut getan hat, dass ich ganz plötzlich aus der Verantwortung genommen wurde. Es fliegen ja immer Angst und Bedenken mit, dass irgendetwas mit dem Zeitplan nicht klappt. Natürlich kann ich mir als Musiker immer drei Monate mehr Zeit nehmen und so lange arbeiten, bis die Platte geil ist. Aber irgendwann machst du dann auch Deadlines ab und dann musst du zumindest Rede und Antwort stehen, wenn du die nicht einhalten kannst. Jetzt war es aber plötzlich so, dass ich gemerkt habe: Alle machen Pläne und diese Pläne werden einfach vom Leben komplett zunichte gemacht. Und ich hatte das Gefühl, wenn du jetzt die eigenen gesteckten Ziele und die Erwartungen der Plattenfirma zeitlich nicht einhältst, bist du überhaupt nicht schuld. Da gibt es nämlich dieses Arschloch-Virus und das sorgt dafür, dass die ganze Welt wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt und niemand wird auf dich zeigen. Das hat mir schon irgendwie den Rücken freigehalten und ich habe mich in meinem Studio plötzlich ganz frei gefühlt.

Es hat mir in der Zeit auch nie jemand die Fragen gestellt „Wann gibt’s jetzt endlich wieder eine neue Edguy-Platte? Wann gehst du wieder mit Edguy auf Tour? Wann machst du dies, wann machst du jenes?“ Sowas hat mich einfach niemand gefragt, weil die Leute draußen alle ihre eigenen Sorgen hatten und jeder wusste, dass es keine Touren und keine Platten gibt. Die Welt ist im Arsch, die Läden haben sogar geschlossen. Die einzigen, die gewinnen, sind Amazon, Netflix und Spotify. Der Rest ist gefickt. Das hat mir einfach ein Stück weit die Verantwortung genommen. Ich habe mich zurückgezogen und in meinem Studio deshalb auch an so vielen Details arbeiten können. Ich habe mir gesagt „Es gibt ja sonst nichts zu tun, also krempelst du jetzt mal die Ärmel hoch, bewältigst mal deine eigene Vergangenheit und schreibst Lieder.“ So habe ich etwas sehr Negatives in etwas sehr Schönes umgewandelt. Davon handelt auch „Scars“: „It grows from the scars“ sagt, dass manch schöne Dinge auch sehr viel Schmerz in den Wurzeln haben.

Wir fallen in der Welt der Erwachsenen irgendwie durchs Raster

Kommen wir zum Albumtitel: Was ist die „Moonflower Society“ für dich? Sind es die Fans oder ist es die Gruppe an Sängern, die immer wieder zu AVANTASIA zurückkehrt?
(lacht) Im Prinzip beides. Ursprünglich wollte ich einfach meinen Inspirationen, meinen Wesenheiten, die mich umgeben, wenn ich die Tür hinter mir im Studio zu mache und in meine eigene Welt eintauche, ein Gesicht geben. Den Musen, den Geistern und Gespenstern, die um mich herum sind und mir das Feuer einhauchen, das machen zu können, was ich mache. Den Torwächtern für die fantastische Welt im Rahmen meiner „Geschichte“, also diesen Protagonisten meines Imaginarium-Theaters in meiner selbst geschaffenen Konzeptwelt. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass tatsächlich auch die AVANTASIA-Leute, die mich in meinem Arbeitsumfeld umgeben, genau wie ich sind. Wir sind alle nachtaktive Tiere, die so ein bisschen in der Welt der Erwachsenen, in der Ellbogengesellschaft da draußen, irgendwie durchs Raster fallen. Wir alle haben einen Katalysator gefunden – unsere Musik, unsere selbst geschaffene Welt – um in der Realität irgendwie klarzukommen, in dieser materiellen Welt mit den Ellbogen. Da sind wir uns alle ähnlich, das haben wir gemeinsam und ich glaube, das können auch viele Fans nachvollziehen. Viele Leute ziehen einfach Kraft aus der Leidenschaft, die wir alle teilen, die auch ein bisschen was mit Eskapismus zu tun hat. Ich würde nicht sagen, dass wir der Realität davonlaufen, sondern dass wir eine unsichtbare Abteilung der Realität gefunden haben, in die wir uns zurückziehen können und in der wir sicher sind vor dem Sonnenlicht da draußen. Unsere eigene kleine Nachtlandschaft, in der wir Kraft tanken und Antworten finden, um da draußen bestehen zu können, wenn die Sonne wieder aufgeht und wir wieder mit den ganzen Arschgeigen da draußen klarkommen müssen.

„Moonglow“ war noch ein sehr einsames, vereinsamtes Album war und hat eine ähnliche Thematik behandelt, aber eben auf sehr einsame Weise. Bei der „Moonflower Society“ habe ich mehr eine Gemeinschaft draus gemacht, weil ich glaube, dass viele von uns ähnliche Gedanken empfinden. Ich glaube, dass uns das auch eint. Der Begriff „Moonflower Society“ funktioniert auf sehr vielen Ebenen. „A Paranormal Evening With The Moonflower Society“ könnte das Motto eines Heavy-Metal-Konzertes oder das Motto eines AVANTASIA-Konzertes sein. Es ist aber definitiv das Motto dieser Reise in meiner Konzeptwelt. Du kommst zu diesem wunderschönen Imaginarium-Theater, wo diese seltsamen, wunderschön verschrobenen Charaktere dich in eine andere Welt reinziehen. Quasi wie bei „Alice im Wunderland“: Es geht durch das Karnickelloch in eine andere Welt und das wollte ich damit ausdrücken. Diese „Moonflower Society“ sind diejenigen, die dich mit ihren Geschichten und ihren Ideen in diese andere Welt führen.

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Zum Release des Albums gibt es nun keine Tour. Liegt das an den ungewissen Aussichten und der allgemeinen Lage, dass da dieses Jahr nichts mehr kommt?
Einerseits hätte die Platte schon vor den Festivals kommen sollen, andererseits waren die Festivals sowieso eher Jubiläumsshows von AVANTASIA. Ich glaube, es liegt im Endeffekt einfach daran, dass momentan alle auf Sicht fahren müssen. Wir werden mit Sicherheit Shows spielen. Ich glaube nicht, dass es diese typische 60-Show-Tour durch vier Kontinente geben wird. Man muss halt einfach schauen, was man in diesen Zeiten machen kann. Die Wirtschaftslage ist fordernd, Corona ist immer noch ein Thema und ebenfalls fordernd. Deshalb haben sich die Musikwelt und die Konzertlandschaft natürlich verändert. Im Moment fahren alle auf Sicht, viele Konzerte und Touren werden abgesagt. Ich möchte nichts buchen, was ich nachher absagen muss. Uns ist das dieses Jahr sehr gut gelungen: Ein Festival ist leider ausgefallen, die anderen Konzerte haben alle stattgefunden. Wir haben sogar mehr gespielt, als eigentlich geplant war. Ich denke, dass es Konzerte geben wird und ich bin überzeugt davon. Ich weiß sogar schon von ein paar Konzerten, die es geben wird, wenn auch bisher leider nicht in Deutschland, aber ich bin sicher, dass auch in Deutschland welche dazukommen. Ich glaube nicht, dass es zwölf Hallenshows werden, vielleicht spielen wir eher zwei Open Airs. Wir müssen schauen, dass wir durch diese Scheißnummer einigermaßen durchkommen, bis sich die ganze Weltlage hoffentlich irgendwann mal wieder entspannt hat.

Ich versuche, da immer positiv zu denken. Es fällt nicht immer leicht, positiv zu sein, aber das Licht ist bei mir noch nicht ausgegangen. Ich nehme die Dinge so wie sie sind und denke positiv.

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Publiziert am von

Dieses Interview wurde per Telefon/Videocall geführt.

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