Review Dream Theater – Octavarium

DREAM THEATER haben, so kann man nach der Betrachtung ihres Backkataloges wohl behaupten, als musikalische Institution so ziemlich alles erreicht, was sich Musiker so vornehmen können. Da stellt sich nun doch die berechtigte Frage: Was haben DREAM THEATER noch zu sagen, musikalisch auszudrücken? Betrachtet man die letzten beiden Outputs „Six Degrees Of Inner Turbulence“ und vorallem „Train Of Thought“, kommt man schnell zu dem Schluss, dass die Jungs ihrem epischen Material mehr und mehr entsagen und den „Metal“ weiter in den Vordergrund stellen möchten. Songs wie „The Glass Prison“ oder „This Dying Soul“ von den obenerwähnten Alben zeigen dies deutlich.
Bereits nach „Train Of Thought“, welches zwar unabdingbar seinen Reiz versprühte, allerdings doch musikalisch sehr eingleisig und engstirnig fuhr, war klar, dass eine weitere Steigerung des Mottos „dunkler, schneller, härter“ nur bedingt zum Erfolg (bei Fans) führen würde.
Und so darf man natürlich gespannt sein, was uns die Götter mit ihrem neusten Werk anbieten. Einiges lässt sich zunächst schon feststellen, bevor nur ein Ton des neuen Silbertellers erklungen ist: Das Artwork geht wieder eher in die interlektuell anmutende Prog-Richtung, der krasse Drang zu dunklen Tönen weicht einladenden Farben. Desweiteren: Die Zehnminüter des Vorgängers weichen doch tatsäch eher „kürzeren“ Nummern zwischen vier bis acht Minuten. Erst der Titeltrack schießt den Vogel ab.

Aber der Reihe nach:
Seit einiger Zeit beginnen neue Dream Theater Outputs mit genau dem Ton, der das vorhergehende Album beendete. So wird der Opener „The Root Of All Evil“ mit dem finalen Klaviertupfer von „In The Name Of God“ eröffnet, ehe es schnell wieder recht dunkel und bedrohlich wird. Dieser Track erinnert tatsächlich noch am ehesten an die Songs von „Train Of Thought“, sowohl stilistisch als auch atmosphärisch. Er bildet einen weiteren Teil der fortlaufenden Reihe, die mit „Glass Prison“ und „This Dying Soul“ auf den letzten beiden Alben begann. Konsequenterweise begegnet uns nach ca. 4 Minuten der Refrain aus „This Dying Soul“, natürlich in leicht abgewandelter Form. Wichtige Erkenntnis bereits nach diesen ersten 8 Minuten: Auch wenn man von Ausdruck und Emotion lange nicht an alte Zeiten anknüpft, wirkt das hier doch wesentlich lebendiger und melodieseeliger als die letzten Versuche in diese metallische Richtung. Man hat das Gefühl, es gibt neben bloßem technischen Show-Off tatsächlich noch echte Versuche, gefühlvoll zu klingen.

Hm, vielleicht hätte ich das nicht schreiben dürfen. Das folgende „The Answer Lies Within“ ist nämlich eine waschechte Ballade mit zur Abwechslung mal positiver Grundstimmung. Soetwas hat man in dieser Art und Weise schon seit dem 97′ Album „Falling Into Infinity“ nicht mehr gehört. Ja, so klingt das hier, nur besser. Man hat sich diesmal nicht wie noch 1997 dazwischenreden lassen und Co-Writer zugelassen. Das ist wirklich eine tolle Nummer! Ergreifend, ehrlich, mit einem fantastischen LaBrie und einem für jedermann verständlichen Text, der das Leben in seiner ganzen Komplexität beinahe kindlich zu erklären versucht. Man wird sicherlich oft lesen, die Lyrics seien unterirdisch schlecht; ich finde sie einfach absolut passend.

Mit „These Walls“ kommt mein heimlicher Favorit von „Octavarium“. In den folgenden sieben Minuten zeigen die Jungs, dass sie tatsächlich in der Lage sind, völlig schlüssige und mitreißende Songs zu schreiben, die nicht mit unnötigen Instrumentalpassagen zugeballert werden. Da kommt die Atmosphäre von Alben wie „Images And Words“ und „Awake“ wieder auf, da denkt man an eine kompakte Version von „Learning To Live“. Endlich hält sich Petruccis Gitarre mal im Hintergrund auf, endlich baut man packende, gänsehauterzeugende Atmosphäre auf. Wie lange man darauf warten musste. Der Refrain wirkt dahingegen schon fast ein bisschen zu einfach, passt hier aber einfach perfekt ins Bild.

Und nun wirds langsam echt beängstigend: „I Walk Beside You“ ist Song Nummero 4. Wir hatten nun schon einen recht proggressiven Song mit Betonung des Metalaspekts, eine spärlich instrumentierte Ballade, einen kompakten Rocksong….ja, und nun haben wir U2, Coldplay & Dream Theater in „I Walk Beside You“. Moment, die Uhr hat sich aber vom „Scences From A Memory“-Intro „Regression“ hierher verlaufen, oder? Nach einer poppig anmutenden Strophe, kommt der erste Refrainteil doch tatsächlich relativ nahe an die Melodie vom Coldplay-Hit „Clocks“. Man achte hier insbesondere auf das Schlagzeug- und Pianospiel, nicht so sehr auf die eigentliche Gesangsmelodie. Was dann folgt, im zweiten Refrainteil, ist ganz einfach ein in irgendeiner Kiste gefundener unveröffentlichter U2-Songschnipsel. Anders kann ich das nicht nennen.

Was mag wohl noch kommen? Zu „Panic Attack“ möchte ich eigentlich nichts weiter sagen, außer vielleicht, dass ich mir keinen passenderen Titel zu dem Song vorstellen kann. Es wird eine Stimmung aufgebaut, die vor Hektik und Verfolgungswahn fast überkocht – natürlich ein wieder eher flotter Track mit allerlei instrumentalen Finessen, aber auch epischer Tiefe. Könnte auch von „Scences From A Memory“ kommen.

Mit „Never Enough“ ergänzen Dream Theater die Riege der von ihnen „gecoverten“ Bands um einen weiteren Act. Das hier klingt einfach total nach Muse. James LaBrie singt beinahe operettenhaft; wer den Muse-Frontmann kennt, weiß, wie ich das meine. Die gesamte instrumentale Soundkulisse, insbesondere das Gitarrenriff und das Schlagzeugspiel lassen sich eindeutig Muse zuordnen.

„Sacrificed Sons“ ist nun mit nahezu 11 Minuten Spielzeit doch wieder ein eher längerer Song. Hier begegnen uns zunächst ausführlich die schon so sehnlichst vermissten Sprachsamples, in gleicher Art und Weise eingesetzt wie bei „The Great Debade“, man erwartet eine ähnliche Steigerung, wird aber auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Einfaches Piano begleitet James in einem wieder sehr emotionalen Part, der bald in einem schönen Midtempo-Refrain mündet. Hier geht es thematisch übrigens um Terroranschläge, wie den auf das World-Trade-Center am 11. September 2001. Natürlich folgen auch hier die schon beinahe zum Standard verkommenen Instrumentalpassagen inklusive den altbekannten Keyboards und sehr lobenswerten Symphonikpassagen.

Und wo andere Bands nun nach etwas mehr als 50 Minuten Spielzeit schluss machen, fangen die Jungs von Dream Theater erst richtig an. Der Titeltrack braucht satte 24 Minuten. Das ist übrigens nicht Pink Floyd in den ersten sechs Minuten, nur damit das klar ist – das klingt nur derbst nach denen! Dem Fan sei hier schonmal nahegelegt, dass „Octavarium“ sich soweit in die Richtung des Progressive Rock, eben nicht des Progmetals, vorwagt und bewegt, wie dies niemals zuvor der Fall war. Man fährt Slidegitarren, Akustikgitarren, Moogs, Hammonds, Querflöten auf, zelebriert epische Breite und symphonischen Bombast, gibt sich mal spacig, mal verhalten folkloristisch, lehnt sich an klassische Longtracks und die Überwerke von Spock’s Beard an, ähnlich wie man es schon damals mit „Six Degrees Of Inner Turbulence“ versucht hat. Hier gelingt es jedoch eine ganze Spur authentischer, kohärenter, schlüssiger, stimmiger, schlichtweg schwer in Worte zu fassen! Und zwischendurch wird man auch noch mal richtig metallisch.

Die eingangs gestellte Frage, was Dream Theater musikalisch noch zu sagen haben, beantwortet „Octavarium“ auf wohl zweifache Weise. Sie haben ihre eigene Vergangenheit wieder aufgearbeitet, teilweise daran angeknüpft und die Versuche von „Falling Into Infinity“ endlich mal zuende gedacht. „Octavarium“ ist eben kein besonders metallisches Album geworden, aber es rockt an manchen Stellen! James LaBrie bekommt endlich wieder den Raum, den er benötigt, um beim Hörer auch andere Emotionen als Aggressivität hervorzurufen. Die Musik wirkt durch und durch frischer, lebendiger, farbenfroher. Sie ist seltsamerweise recht leicht zu erschließen, aber dennoch extrem vielschichtig, sodass es mit jedem Hördurchgang etwas Neues zu entdecken gibt. Andererseits muss man auch klar sagen: Wenn „Train Of Thought“ ein klassisches Metalalbum in der Tradition von z.B. Metallica war, so ist „Octavarium“ ein sehr stark alternativ ausgerichtetes Album – zumindest im Grundsound des Materials. Das bei mehreren Tracks hinzugezogene echte Orchester erweitertert den Soundkosmos von Dream Theater gewaltig und bewirkt – auch dezent eingesetzt – schon Wunder.

Zusammenfassend kann „Octavarium“ als bestes Dream Theater Album seit „Scences From A Memory“ angesehen werden. Es kratzt in so manchem Moment sogar an „Awake“ und „Images And Words“, ist jedoch nicht über die gesamte Spieldauer dermaßen atemberaubend.

Aber atemberaubend ist es, wie jede neue Scheibe der Götter, nunmal schon. Und deshalb gibts auch mindestens die untenstehende Punktzahl!

Wertung: 9 / 10

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