Review Napalm Death – Throes Of Joy In The Jaws Of Defeatism

So viel Zeit wie noch nie in der Geschichte von NAPALM DEATH ist zwischen den Veröffentlichungen zweier Studioalben vergangen – und die Geschichte reicht im Hinblick auf Full-Lengths immerhin bis 1987 zurück, als das Debüt „Scum“ in die Szene einschlug. Mehr als fünfeinhalb Jahre ist es nun her, dass die britischen Grindcore-Veteranen ihren letzten Longplayer „Apex Predator – Easy Meat“ unter die Leute gebracht haben. Zwar sind in der Zwischenzeit einige EPs und Splits sowie eine Compilation mit teils unveröffentlichtem Material erschienen, aber eine richtige, reguläre Studioplatte liegt erst jetzt mit „Throes Of Joy In The Jaws Of Defeatism“ vor. Und auch wenn es wie eine Floskel klingt: Das Warten hat sich gelohnt.

Zuerst fällt auf, dass Gitarrist Mitch Harris, der sich bereits Ende 2014 von Live-Aktivitäten der Band zurückgezogen hat, weder auf den Promofotos noch in der offiziellen Line-up-Info auftaucht. Und obgleich er auf der neuen Platte zu hören ist, hat er sich laut Bassist Shane Embury nicht am Songwriting beteiligt – mit Ausnahme von „A Bellyful Of Salt And Spleen“, das ironischerweise ganz ohne Gitarre auskommt. Dass Embury somit nahezu alle Tracks auf „Throes Of Joy …“ im Alleingang geschrieben hat, hat dem Album freilich alles andere als geschadet, ist es doch nicht nur mindestens so stark wie die beiden vorangegangenen Longplayer, sondern sogar vielseitiger und experimenteller denn je.

Davon ist allerdings zu Beginn noch nichts zu hören. Passend zu den Zeiten, in denen die Platte veröffentlicht wird, lautet das erste Wort, auf das man beim Blick in die Tracklist stößt, „Fuck“. Und so klingt das dann auch: „Fuck The Factoid“ ist ein typischer NAPALM-DEATH-Brecher, der die Hörer ohne Vorwarnung, aber dafür mit Uptempo, Blasts und kalten, fast schon schwarzmetallischen Gitarren-Leads gleich mitten ins Geschehen wirft. Auch die folgenden drei Tracks bieten wenig Gelegenheit zum Durchatmen, dafür bandtypische Elemente wie wuchtiges Riffing in stampfendem Midtempo, spannende Drum-Rhythmen und dissonante Leads („Backlash Just Because“) oder chorartigen Gesang im Refrain („Contagion“). „The Curse Of Being Thrall“ fährt gar 80er-Hardcore-Punk-Anleihen auf und hätte in der Form auch auf dem 2009er Album „Time Waits For No Slave“ stehen können.

Die experimentellere Seite von NAPALM DEATH hingegen offenbart sich in Tracks wie „Joie De Ne Pas Vivre“ oder „Amoral“. Ersterer kreiert mit Drums, Bass und Synthesizern als Grundlage eine Atmosphäre düsterer industrieller Kälte. Die Gitarre agiert dezent im Hintergrund und ist kaum zu vernehmen, während Greenway den Track mit geflüsterten Growls voll wüster, besessener Hässlichkeit versieht. Letzterer, „Amoral“, entpuppt sich als astreine Post-Punk-Nummer, die im Refrain eine wunderschön dichte Gitarrenwand auffährt – stärker nach Killing Joke haben NAPALM DEATH wohl noch nie geklungen. Doch auch mit „Invigorating Clutch“ zeigen sich die Briten vielseitig: Ein Intro mit Ambient-Rauschen, dröhnendem Bass, wabernden Post-Rock-Gitarren und tiefem Chorgesang verwandelt sich mit einem garstigen Schrei in einen schwerfälligen, zähen Schlag in die Magengrube. Den experimentellen Höhepunkt bildet aber wohl das finale „A Bellyful Of Salt And Spleen“, ein noisiger Monolith völlig ohne Gitarre, der sich über viereinhalb Minuten dahinschleppt, versehen mit choralartigem Gesang und verzerrten Orgelsounds. Die Nummer, die noch am ehesten an das Intro zum Vorgängeralbum erinnert, klingt atmosphärisch dicht, abschreckend und schön zugleich und hinterlässt eine schwere, düstere Traurigkeit.

Demgegenüber stehen nun nicht nur die eingangs erwähnten härteren Songs, sondern auch die Nackenbrecher der zweiten Albumhälfte: „Zero Gravitas Chamber“ oder „Fluxing Of The Muscle“ sind Höhepunkte von „Throes Of Joy …“, die zusammen mit dem gnadenlosen Titeltrack all jene Hörer zufriedenstellen dürften, die NAPALM DEATH vor allem wegen ihrer brutalen Deathgrind-Attacken zu schätzen wissen. Nicht nur, aber auch an diesen Songs kann man gut beobachten, dass die Band ihre Stücke gerne in zwei oder gar drei Teile splittet und auf diese Weise für umso mehr Abwechslungsreichtum sorgt. Darüber hinaus deuten die smarten, unalbernen Wortspiele in den Liedtiteln an (man beachte auch die dem Albumtitel innewohnende Gegensätzlichkeit), dass die Gruppe nicht nur musikalisch, sondern auch textlich mehr denn je in der Oberklasse spielt. Zumindest hinsichtlich ersteren Aspekts muss man sich ins Gedächtnis rufen, dass alle Mitglieder bei NAPALM DEATH mittlerweile 50 oder älter sind, mit ihrer Musik aber nach wie vor eine brachiale Energie freisetzen.

Das auffällig düstere, kalte und atmosphärische „Throes Of Joy In The Jaws Of Defeatism“ greift als das nunmehr 16. Studioalbum der Birminghamer die Experimentierfreudigkeit der letzten beiden Full-Lengths auf und baut diese aus, ohne die erbarmungslosen Trademarks, für die der Name NAPALM DEATH steht, zu vernachlässigen. Über das Genre Grindcore ist die Gruppe längst hinausgewachsen, und auch mit der alles und nichts sagenden Bezeichnung Extreme Metal tut man ihr keinen Gefallen. Als individuelle Vertreterin extremer Musik fährt die Combo ihren ganz eigenen Stilmix aus diversen Genres und weiß damit auch 2020 zu begeistern.

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Wertung: 9 / 10

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