Review Neal Morse – Sola Scriptura

„Neal zeigt sich reif und weise, erzählt herzerwärmende Geschichten, reiht viele viele Strophen aneinander, ohne musikalisch große Abwechslung zu präsentieren – und doch sind die Melodien so schön und die Texte so positiv, dass man einfach gern zuhört und ein Stück weit Seelenheil gespendet bekommt.“

Dies ist ein Ausschnitt aus meiner Rezension zu Neals drittem Worship-Album „Songs From The Highway“, das ziemlich genau einen Monat vor dem Release seines mittlerweile vierten Prog-Soloalbums „Sola Scriptura“ auf der Church-Tour im Januar 2007 verkauft wurde. Auf „Songs From The Highway“ erlebten wir Neal so pur, authentisch und natürlich wie niemals zuvor. Nur seine Stimme und eine Akustikgitarre reichten dort aus, um die Magie und Wärme, die ich an Neals Kompositionen so schätze, rüberzubringen. Wer dieses Album gehört hat, der mag vielleicht in Versuchung geraten, Neal nun Verweichlichung vorzuwerfen und ihn entgültig aus der Liste seiner Prog-Lieblinge zu streichen.

Doch „Sola Scriptura“ wird diese Menschen nicht bestätigen. Es ist das ganz große Ausrufezeichen eines Künstlers, der allem Spott zum Trotze seinen eigenen Weg weitergeht und dabei klarstellt, dass er eben nicht das ist, zu dem ihn viele machen. „Sola Scriptura“ ist zwar durchaus „typisch“ Neal Morse, d.h. es gibt allerlei seiner Trademarks zu hören, wie z.B. den Flamenco-Part in „The Door“, mehrstimmige Gesangspassagen und herzzerreißend schöne, himmlische Melodien. Doch über all dem schwebt ein richtig frischer Wind! Die ersten Durchläufe der neuen CD werden bei vielen Hörern mit einem Dauergrinsen und einem offenen Mund enden. Die Kompositionen besitzen fast alle Überlänge (29, 25, 5 und 16 Minuten) und weisen dabei eine Ideendichte, Geschwindigkeit und Härte auf, die wir von Neal so noch nicht geboten bekommen haben und die das Material definitiv so frisch klingen lässt, wie niemals zuvor. Schon beim „Question Mark“-Album war der Hang zum Ausloten sämtlicher Extreme vorhanden, hier setzt Neal dem Ganzen noch eine Krone auf. Im 25-minütigen „The Conflict“ bekommen wir zunächst minutenlang groovende, riffende und mächtig rockende Gitarren vorgesetzt, die obendrauf noch mit absolut unbeschreiblichen Soli garniert werden, ehe die erste Gesangspassage kommt und uns vorerst auf bekannteres Neal-Terrain zurückführt. Das hält jedoch nicht lange an, und schon bald finden wir uns wieder im wilden Instrumentalgewitter irgendwo zwischen Hardrock, Progmetal (der gute Neal hat eindeutig öfters Dream Theater gehört!) und symphonischem Progrock, ehe völlig überraschend ein mittelalterliches Akustikgitarrenintermezzo folgt, an das der Flamenco-Part angeschlossen wird. Ein waghalsiger Stilmix und noch dazu sogar headbangbar! Im Gegensatz zu anderen Gehversuchen in eine härtere Richtung, wie z.B. „Author Of Confusion“ vom „One“-Album wirkt das hier authentischer, echter, nicht erzwungen oder aufgesetzt.
Auch der Opener „The Door“ weißt nach einem streichergetränkten, melodramatischen Beginn durchaus mehr Action und weniger Harmonie-Sucht auf, als von Neal Morse gewöhnt. Schräg rockende Riffs paaren sich mit saftiger Hammondorgel, dazu gesellt sich ein nicht besonders harmonisches Piano. Der erste Teil mit Gesang, „In The Name Of God“, ist alles andere als der von Neal so gewohnte „Schöne-Welt“-Einstieg und klingt doch arg fies („In the name of god you must die!“).

In diesem Zusammenhang sollte vielleicht einmal die Geschichte des Album erläutert werden. „Sola Scriptura“ beschäftigt sich mit Martin Luther und der Reformation in Worms. Allerdings wird Luther selbst nie erwähnt und Neal weißt darauf hin, dass man die Geschichte auch mühelos auf andere gläubige Menschen übertragen kann. Die Ernsthaftigkeit und das Streitpotential des Themas kommen in dem aggressiveren, schnelleren und härteren Sound genauso zum Ausdruck wie in den Lyrics, in denen Neal „durch die Blume“ klar macht, dass er gegen die Katholiken und ihre damaligen Lehren („Gnade durch Werke“, „Vergebung der Sünden durch Ablassbriefe“) ist. Immerhin erfüllt Neal hier die Forderungen derjenigen, die von ihm kein „religiöses Gesäusel“, sondern eine klare Stellungnahme und einen Bezug zur Realität verlangen. Übrigens: Der Titel „Sola Scriptura“ ist lateinisch und heißt auf deutsch „nur durch die Schrift“. Er gehört zu den drei Glaubens- bzw. Erlösungsgrundsätzen, die Martin Luther in „Die Freiheit eines Christenmenschen“ dargelegt hat (weiterhin waren dies: „Sola Fide“ und „Sola Gratia“, also „nur durch den Glauben“ und „nur durch Gottes Gnade“).

Als Konsequenz dieses ernsten Themas hat man zunächst den Eindruck, dass dem neuen Album ein wenig die Schönheit und Wärme fehlt, die insbesondere „One“ zu etwas ganz Besonderem gemacht hat. Nach kurzer Zeit entdeckt man jedoch Parts wie „All I Ask For“, „Upon The Door“, „Heaven In My Heart“ oder „Already Home“, in denen Neal seine fantastische Stimme wieder mit wunderschönen Harmonien vereint und ganz schnell klar wird: Da sind sie wieder, die Piano- oder Akustikgitarrenballaden, für die man Neal Morse wie keinen anderen Musiker liebt. In der Tat gehören die Finalteile der einzelnen Longtracks mit zu dem besten, was Neal bisher komponiert hat. Das ganz große Finale gibt es dann im letzten Track „The Conclusion“, der zwar hauptsächlich Themen und Motive aus den anderen Songs zusammenführt, aber dennoch am Ende mit fantastischem, himmlischen Chorgesang aufwartet und nur ganz knapp hinter dem „One“-Finale „Make Us One“ zurückbleibt.

Neals musikalische Begleiter für dieses hart proggende, aber stets auch wunderschöne Epos sind wie schon auf den letzten Alben Mike Portnoy von Dream Theater und Randy George. Hinzu kommt Paul Gilbert von Mr. Big als Gastgitarrist. Der Beitrag und Einfluss von Gilbert auf das Album kann dabei nicht hoch genug gelobt werden: Nie klangen die Gitarren bei Neal besser und knackiger, nie war ein Album von ihm besser produziert – und die Soli, die Paul Gilbert beisteuert (beispielweise beim Finale von „The Door“) sind absolut grandios. Hinzu kommt, dass Mike Portnoy sich hier wirklich selbst übertroffen hat: Nie hat er versierter, abwechslungsreicher und knackiger auf die Felle geschlagen, ohne seinen eigenen Stil zu verleugnen. Längere DoubleBass-Salven sind im Rahmen eines Neal Morse-Albums eben auch unerwartetes Neuland. Randy George am Bass agiert wie üblich eher zurückhaltend, bekommt aber wie schon auf „Question Mark“ einen kurzen Solospot. Keine Frage, „Sola Scriptura“ ist so energiegeladen und rasant, dass es förmlich nach einer Live-Umsetzung schreit. Dann aber bitte mit den Charakteren, die auch auf dem Album für diesen Wirbelwind verantwortlich sind.

Was bleibt schließlich abschließend zu sagen? „Sola Scriptura“ ist ein Album, dass allen Neal-Fanatics den Himmel auf Erden bietet und die ewig währenden Hobbykritiker entweder total überrollen und begeistern wird, oder ihnen eben wieder die typischen Wahlsprüche wie „er wiederholt sich nur“ oder „das haben wir alles schon mal gehört“ entlocken wird. Leute, ja, es stimmt, die Mittelalter-Passage in „The Door“ klingt fast haargenau wie das Streicherintro von den Transatlantic-Longtracks „Stranger In Your Soul“ und „Duel With The Devil“, und auch auf den Part „Long Night’s Journey“ kann man eins zu eins „Long Time Suffering“ drübersingen. All diese harschen Kritiker sollten sich einmal fragen, was sie eigentlich machen: Neal baut in seine Musik so viele verschiedene Stilmittel ein und mischt sie so homogen zusammen, dass einem fast Angst und Bange wird. Er arbeitet zwar im eigentlich Sinne des Wortes nicht mehr „progressiv“, aber ein Jazz-Fusion-Album würde in diesen eher verkaufsschwachen Zeiten genauso viele Fans anlocken wie abstoßen. Also geht man doch lieber nicht so ein großes finanzielles Risiko ein und spielt weiterhin die Musik ein, die natürlich „aus einem fließt“ und präsentiert sie in einem äußerst frischen Wind. Nichts anderes macht Neal mit „Sola Scriptura“.

Die wahre und wirkliche Innovation in Neals Musik ist den meisten Menschen leider verborgen geblieben: Es sind die Texte, die jedes Mal etwas Neues, Interessantes und Inspirierendes zu bieten haben; auf dieser Ebene hat sich Neal enorm verändert – aber diese Veränderung nimmt das ja so arg weitsichtige Prog-Volk natürlich nicht wahr, oder eben nicht an. Es geht Neal nicht mehr darum, Menschen die Musik ihres Lebens zu geben (auch wenn er das zweifellos „nebenbei“ immer noch problemlos schafft), es geht ihm darum, den Menschen über sein Leben zu erzählen und die frohe Botschaft zu verbreiten. Das weiß man spätestens nach einem Besuch auf der Church-Tour. Neal will nicht mehr auf den Prog-Olymp, er macht solche Alben, um zumindest noch ein bisschen Geld zu verdienen, seine Prog-Freunde noch ab und zu zu beglücken und auch deshalb, weil er vor musikalischer Kreativität sonst überlaufen würde. Auf der Church-Tour hat er an den Abenden, an denen ich anwesend war, nicht ein Wort über sein neues Prog-Album „Sola Scriptura“ verloren – das sollte doch einiges klarmachen, oder?

Also: Lasst euch von der Musik verzaubern, entdeckt die ihr innewohnende Schönheit, wie ein sanfter warmer Windhauch, wie eine sanfte Umarmung! Lasst euch auf die Musik und die Texte ein, es wird euch nur gut tun – und denkt an die allerletzte Textzeile des Albums, die Neal nicht auf einem Grundakkord enden lässt und damit die Tür für die Zukunft aufhält:

“God can change the world with just one willing soul – maybe it is YOU he’s looking for…!“

Wertung: 9.5 / 10

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