Review Whitechapel – Kin

Im Frühjahr 2019 gelang der Deathcore-Band WHITECHAPEL etwas wirklich Fantastisches: Mit einem sehr erwachsenen, druckvollen und – wenn sinnvoll – auch ruhigen Sound kreierte das Sextett mit „The Valley“ das bislang beste Album seiner Karriere. Nun steht mit „Kin“ das bereits achte Full-Length der Bandgeschichte in den Startlöchern und die Erwartungen sind aufgrund des Vorgängers entsprechend hoch.

Nach den ersten beiden Vorab-Singles, „Lost Boy“ und „Bloodsoaked Symphony“, stieg die Vorfreude weiter an. WHITECHAPEL präsentieren auf beiden Tracks die gesamte Bandbreite ihrer Stärken: ein kräftiger und roher Sound, der auf Mid-Tempo-Rhythmen, drei Gitarren und einem gut hörbaren Bass basiert. In gezielten Momenten tritt Lead-Gitarrist Ben Savage mit klagenden Melodien und gelungenen Soli in den Vordergrund und Frontmann Phil Bozeman garniert alles mit seinen unverkennbaren und gewohnt starken Growls. Auch die auf „The Valley“ clever eingebundenen Cleans finden sich auf „Lost Boy“ wieder – passend in die Bridge eingewoben, versprühen sie ein Gefühl von Melancholie und Unsicherheit.

Zwei Stimmungen, die das Soundbild von „Kin“ überraschend stark prägen und sich mit den aggressiven und verzweifelten Growls abwechseln und ergänzen. Genau in diesem Zusammenspiel liegt bei „Kin“ einerseits die Stärke, andererseits aber auch die größte Schwäche. Während Bozemans Klargesang auf den Vorgängern nur ein dezent eingesetztes Element war, schreiben WHITECHAPEL den sanften Klängen nun eine tragende Rolle zu. Diese (nicht zu verteufelnde) Entwicklung entpuppt sich bei „History Is Silent“ als Volltreffer: Entspannende Gitarrenklänge und eine ruhige Stimme dominieren die Strophen, stehen damit allerdings im Kontrast zum druckvollen Refrain. Dabei gelingt es der Band, die zerbrechliche Stimmung mit einer bekümmert anmutenden Melodie in die harten Parts zu übernehmen.

Ähnliches lässt sich auch auf „Anticure“ und das Song-Duo „Without You“ und „Without Us“ anwenden: Aus dem Blickwinkel des Songwritings betrachtet, bilden WHITECHAPEL abermals einen anregenden Spannungsbogen und verbinden Fragilität mit unbändiger Entschlossenheit. Allerdings wird Bozeman, stets eine der größten Stärken der Amerikaner, dabei zu ihrer womöglich einzigen Schwachstelle: Auf vorigen Alben aufgrund des unterschwelligen Clean-Einsatzes unbemerkt geblieben, ist Bozemans Gesangsspektrum leider recht begrenzt. So sind die vielen Klargesangspassagen überwiegend in derselben Tonlage gehalten. Zusätzlich fehlt häufig die nötige Power, um den Tracks den richtigen Drive zu verpassen – dies gelang mit „Hickory Creek“ auf „The Valley“ schon deutlich besser.

Bei dieser Kritik an den Gesangsfähigkeiten des Frontmanns ist es dennoch wichtig anzumerken, dass die Vocals zu keinem Zeitpunkt nervig, peinlich oder unhörbar klingen und in nach wie vor gegebenen Momenten (hier ist das bereits angesprochene „Lost Boy“ nochmals lobend zu erwähnen) die Tracks sogar auf das nächste Level hieven können.

Prinzipiell ist WHITECHAPELs Entwicklung auf „Kin“ sehr spannend zu verfolgen, denn die instrumentale Mischung aus Death Metal, akustischer Musik und Rock steht der Band gut zu Gesicht. Gerade Ben Savages Soli, die an manchen Stellen Bands wie Aerosmith („Kin“) ins Gedächtnis rufen, sind eines der größten Highlights der Platte und greifen stets die Grundstimmung der Tracks auf. Besonders hervorzuheben ist dies bei „To The Wolves“, dem wohl hektischsten und am ehesten an die Anfangszeit der Band erinnernden Song des Albums: Das erste der beiden Soli greift mit fast chaotisch wirkenden Tönen die schnellen Riffs der Strophe auf, während das zweite deutlich rockiger daherkommt und die melodisch-drückende Bridge kunstvoll abschließt.

Insgesamt ist „Kin“ ein Album mit mehr Höhen als Tiefen, jedoch lassen sich die punktuellen Schwächen bei den Klargesangsparts nicht kaschieren. Die Marschrichtung der Band ist an sich gutzuheißen. Die rockigen und ruhigen Passagen sind handwerklich sehr gut umgesetzt und bringen weitere Elemente in den kraftvollen Sound der Mannen aus Tennessee. Nun liegt es an dem ansonsten immer überzeugenden Bozeman, seine Stimme zu trainieren und diese zukünftig facettenreicher einzusetzen. So gehen WHITECHAPEL nach dem überragenden „The Valley“ aber vorerst einen Schritt zurück – vielleicht ja auch nur, um für Album Nummer neun Anlauf zu nehmen.

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Wertung: 7 / 10

Publiziert am von Silas Dietrich

Ein Kommentar zu “Whitechapel – Kin

  1. Um Kin im Gesamten glaube ich besser zu verstehen, muss man die Story von Phil Bozeman kennen, die mit The Valley angefangen wurde zu erzählen. Für mich persönlich ist Kin ein konstante Weiterentwicklung von The Valley und steht dem musikalisch was Mix/Produktion anbelangt und vor allem eben lyrisch in nichts nach. Ich kenne kein Modern Metal-Album, welches so emotional und persönlich ist und gleichzeitig musikalisch in Point ist und alles absolut zusammenhängt. In einem Interview (zu finden auf YouTube auf dem Channel von Kardavox Academy) erzählt Phil unter anderem, warum er genau so klingt, wie er klingt (bei den guturals): Schlicht um eine Geschichte zu erzählen, die verstanden werden soll und die man nicht nachlesen muss. Für mich persönlich ist Kin Anwärter zum Album of the year und steht in meinem Ranking ganz oben mit den releases von z.B. Vildjharta und Erra.

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