Interview mit Andreas Schmittfull von Phantom Winter

Mit „Her Cold Materials“ liefern PHANTOM WINTER nicht nur ihr nunmehr viertes Full-Length ab, sondern einmal mehr ein so rohes wie facettenreiches Album, das ergründet werden möchte. Im Interview gewährt Bandkopf Andreas Schmittfull Einblicke in die Entstehungsweise, aber auch die Inspirationsquellen für „Her Cold Materials“ – und spricht ausführlich über die offensichtlichste: die „His Dark Materials“-Trilogie von Philip Pullman.

Gratulation zu eurem neuen Album. Ihr habt für das Werk grob überschlagen mehr Zeit gebraucht als für die ersten drei zusammen – woran lag das?
Vielen lieben Dank für die Gratulation! Ich hatte das Album … ich denke spätestens 2020 fertig, wahrscheinlich etwas eher. Wir haben uns in der Corona-Zeit sehr strikt an die Regeln gehalten, deshalb auch nicht geprobt und keine Aufnahmetermine wahrgenommen. Zusätzlich gab es auf meiner Seite noch persönliche Gründe, die dazu geführt haben, dass mein Kopf alles andere als frei war, wodurch ich nach mehreren Gesangsversuchen ziemlich entnervt eine Pause eingelegt habe. Letztendlich habe ich mich aber wieder gefangen und wir konnten die Aufnahmen nach längerem Hin und Her abschließen.

Der Titel ist eine Referenz auf den von Philip Pullman geschaffenen Kosmos „His Dark Materials“, der auf dem Roman „Der goldene Kompass“ aufbaut. Das hatte mich damals sehr beeindruckt, leider fand ich die beiden Nachfolger deutlich schlechter – insbesondere den dritte Teil. Siehst du das generell anders, oder was hat eure Faszination für Pullmanns Werke trotzdem hochgehalten?
Die Trilogie „His Dark Materials“ ist für mich schon immer eine der Phantasy-Geschichten gewesen, die neben einer packenden Story auch so viel mehr zu bieten hat. Bewusst als humanistischer Gegenentwurf zu den christlichen Narnia-Chroniken von C. S. Lewis konzipiert, hat  Pullman hier eine vorzügliche Geschichte mit aufklärerischer Haltung erschaffen, die sich gegen Autoritäten jeglicher Art richtet. Für mich gehören die drei Romane untrennbar zusammen, weshalb ich mir da kein „besser“ oder „schlechter“ erlauben möchte. Ich bin großer Fan und möchte meinen Kindern nur wünschen, dass sie in ihren Teeniejahren ebenso darin versinken können wie ich es tat und heute noch tue.

Wie ist deine Meinung zu der damaligen Kinoverfilmung – auch im Vergleich zur nun erschienenen HBO-Reihe? Ist letztere empfehlenswerter?
Um Gottes Willen (sic), die Kinoverfilmung ist unsäglich und absolut schrecklich! Der Geist von Pullmans Werk wurde in keiner Phase getroffen. Die neue Serie geht hingegen sehr geschickt vor und kann trotz einiger Änderungen das, was Pullman sagen möchte, recht ordentlich transportieren. Ich genieße sie sehr und möchte sie deshalb empfehlen!

Nun aber zurück zu euch. Wie konkret bezieht sich euer Album auf das Textwerk – ist euer Album ein Konzeptalbum zu dieser Trilogie, oder eher angelehnt?
Nein, das würde ich so nicht sagen. Der Name ist sicher zu hundert Prozent von Pullman entlehnt und als Hommage an diesen zu lesen. Ich verehre ihn sehr und von „His Dark Materials“ bis „The Firework-Maker’s Daughter“ habe ich nichts, was ich von ihm gelesen habe, enttäuscht weggelegt. Aber das Konzeptalbum „Her Cold Materials“ mit dem Untertitel „A Coming Of Age Folk Horror Tale“ ist nicht nur auf die Romanreihe bezogen. Es gibt so viele Einflüsse, dass das zu kurz gedacht wäre: Ein weiterer großer Einfluss war die fantastische Zeichentrickserie „Over The Garden Wall“, aus der der Titel „Dark Lanterns“ entlehnt ist. Hier müssen zwei Jungs in einem düsteren Märchenwald überleben.

Wie seid ihr bei der Umsetzung der Thematiken in Form von Songtexten konkret vorgegangen?
Ich schreibe immer erst einen Text oder zumindest Textfragmente und entwickle dann die Musik dazu. Bei den Texten sammle ich über Monate oder Jahre Ideen, die ich im Notizbuch festhalte. Wichtig ist, dass das immer und überall passieren kann, da ich auch sehr vergesslich sein kann. Diese Fragmente und Textzeilen breite ich dann vor mir aus und entwickle daraus das Konzept und die Welt, die ich erschaffen möchte. Hier wusste ich, dass ich ein Coming-Of -Age-Konzept umsetzen wollte – für meine Kinder und alle, die Kinder waren, sind und haben. Die Schwierigkeiten, Freuden und die Emotionen dieser Lebensphase sind wahrscheinlich unübertroffen, viele vergessen sie nur. Ich wollte das irgendwie festhalten, weil ich da unglaublich persönliche Aspekte hineinstecken kann. Je persönlicher ein Album wird, desto intensiver und vielleicht besser wird es auch, zumindest empfinde ich das oft so. Ich hoffe, dass sich viele Menschen in diesen Texten wiederfinden können. Meine Tochter spielt übrigens auch das Mädchen im Video zu „Shadow Barricade“.

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Ins Auge springt ja direkt die kleine, aber feine Änderung – ihr habt im Titel aus „His“ ein „Her“ gemacht. Nun bezieht sich Pullmann mit dem Titel ja auf John Miltons Gedicht „Paradise Lost“. In diesem Gedicht wiederum bezieht sich „His“ auf Gott, und die „Dark Materials“ sind die Materie oder die physische Welt, die von der spirituellen Welt getrennt ist. Bezieht ihr euch mit dem „Her“ nun auf Lyra – oder einen weiblichen Gott?
Pullman entzaubert Gott ja in seinem Werk und in „Her Cold Materials“ wird dies auch umgesetzt, indem einerseits Gott entthront und das Mädchen an seine Stelle gestellt wird und andererseits auch das Mädchen, das im Romanzyklus zwar die Hauptfigur ist, aber nicht im Titel vorkommt, in den Titel gehoben wird. Sie ist ihr eigener Gott. Sie muss sich durch diese Welt kämpfen, durch unsere echte Welt, die schrecklich genug ist und eigentlich gar keine verdunkelte Überarbeitung braucht. Jede und jeder hatte seine dunklen Phasen als Kind oder Teenie. Wir alle tragen auch als Erwachsene noch Wunden. Das ist bei mir so und wird bei meinen Kindern nicht anders sein. Allerdings gilt das natürlich für Menschen aller Geschlechter. Einzig der Song „Her Wound Is Grave“ ist spezifisch für alle, die leibliche Kinder bekommen können.

Wie steht es um das Cover – was ist die Idee hinter dem Bild, wer oder was ist hier dargestellt?
Christian Krank, der bei uns auch brüllt und für uns zeichnet, hat hier zusammen mit mir eine Möglichkeit entwickelt, das Heranwachsen inklusive der negativen und positiven Aspekte gestalterisch darzustellen. Wir sehen das Mädchen in Jungen und in etwas älteren Jahren, beide haben ihre Hände nahezu beschwörend ausgebreitet, überragt durch ein Krähenwesen, das die Hände auf die Schultern der älteren Version der Frau gelegt hat. Der Vogel steht hier für alle positiven und negativen Dinge, die das Kind beim Älterwerden erlebt. Und natürlich auch für alle Menschen, die das Kind begleiten und auch mit zu dem machen, was es einmal wird. Der Vogel ist hier keinerseits das Böse an sich, sondern von Familie, Freunden, Lehrkräften bis hin zur Thekenkraft jede und jeder, der in Güte, Liebe, Zorn, Hass oder Gleichgültigkeit ein Teil des Lebens ist. Dies haben wir auch im Video zu „Shadow Barricade“ herauszuarbeiten versucht. Die Band spielt hier die Figuren, die das Mädchen in seinem Leben trifft. Es gibt gute Situationen, schlechte, traurige, lustige. Der Vogel steht für uns alle. Wir wirken auf Menschen, vor allem auf die, die wir lieben, ein, genau wie auf uns eingewirkt wurde und wird.

Musikalisch habt ihr euch einmal mehr weiterentwickelt – sehr auffällig fand ich bereits beim ersten Hören den Klargesang in „When I Throw Up“, der so gar nicht nach übergeben klingt. Wie kam es zur Idee dieses Gesangs, und stört euch nicht, dass der Gesang so in Kontrast zum Songtitel steht?
Kontrast ist wichtig, denn mit Kontrast, beispielsweise einem roten Farbklecks auf einem Winterbild, wird die Kälte noch kälter, das Eis noch eisiger. Die Gesangsparts auf dem Album sollen Harmonie  und noch mehr Emotion in die erschaffene Welt bringen. Vor allem in „When I Throw Up“ ist das so, in dem die Protagonistin wohl am Tiefpunkt angelangt ist. Gerade da ist es wichtig, auf Harmonie zu achten, wenn man die Welt verflucht und einfach nur weit weg sein will. Und sind wir mal ehrlich, wenn wir am Boden sind, besteht unsere Artikulation bei Weitem nicht nur aus Schreien, sondern vieles läuft eher ruhig ab. Für „Dark Lanterns“ habe ich mir dann beim Schlusspart Hilfe bei der Band Unru geholt. Elina Unru singt hier eine zweite Stimme und gibt dem Ganzen dadurch eine weitere Nuance. Leben und Aufwachsen ist nicht nur Gewalt und Krach, es besteht auch aus Harmonie.

In „Shadow Barricade“ (und auch an anderer Stelle auf dem Album) arbeitet ihr mit Sprach-Samples. Woher stammen diese?
Ich möchte hier eigentlich die Quellen nicht unbedingt auflisten, das ist ja auch immer eine rechtliche Geschichte. Vieles, was mir am Herzen liegt, hat hier einen Platz gefunden. Popkultur ist und war mir schon immer wichtig und ich stehe total auf Samples und Sprachpassagen. Deshalb durften diese auch nicht fehlen.

Was macht für dich den Reiz einer guten Sample-Passage aus?
Eine gute Sample-Passage muss das transportieren, was die Quintessenz des Lieds ist. Dann knallt es noch mehr.

Wie wichtig ist für euch generell das Zusammenwirken von Musik, Text und Titel – und wie geht ihr das beim Songwriting an? Schreibt ihr Texte zur Musik, Musik zu Texten oder ganz anders?
Im Endeffekt ist das sogar das Wichtigste bei PHANTOM WINTER. Deshalb liegt das bei uns auch alles in einer Hand. Wir sprechen da gerne von der Vision, die umgesetzt wird. Ich schreibe erst die Texte oder Textfragmente und entwickle dann dazu die Musik. Ideen sammle ich über einen langen Zeitraum in Form von Notizen und auch Aufnahmen, wo ich Passagen einspiele, einspreche oder anders festhalte. Ich sehe den Prozess des Songwritings wie den Prozess beim Schreiben von Lyrik: Dort müssen für ein gelungenes Werk Inhalt, Aufbau, Sprache und Form ineinander greifen und sich bedingen. Alles andere bleibt zu sehr an der Oberfläche. „Schreib mal ein Heavy Riff und mach irgend ‘nen evil Text dazu!“ gibt es bei uns nicht.

Das Album ist – knapp, aber dennoch – euer bislang längstes. Worauf führst du das zurück? Achtet ihr auf soetwas – und sei es nur, dass ihr euch eine Obergrenze festgelegt habt, wie lang das Album maximal werden darf?
Oh, naja. Ich achte einzig darauf, dass man die Songs noch auf eine LP pressen kann. Alles andere ergibt sich tatsächlich von selbst. An ein Doppelalbum habe ich auch schon gedacht, aber auch mag dieses „unter 45-Minuten-Format“.

Wie steht es mit Liveshows – habt ihr eine Releaseshow oder gar eine Tour geplant?
Wir haben eine Minitour zum Release gespielt – und am 1.3.24 das Hell Over Hammaburg. Auch im Frühling und Sommer wird es einige Festivalauftritte geben, die aber noch nicht veröffentlicht werden dürfen.

Vielen Dank für deine Zeit und die Antworten – zum Abschluss unser Brainstorming:
Was wäre dein Daemon für ein Tier?
Ich tendiere zu einer meiner Katzen, Dio und Cringer.
Serie oder Buch? Das Buch lesen, die Serie ist aber auch toll!
Pro oder Contra Popcorn im Kino? Pro!
Wenn „Her Cold Materials“ ein Fortbewegungsmittel wäre – welches? Ein Sandwurm aus „Dune“.
2015 wolltet ihr an dieser Stelle (in zehn Jahren) „Reich und schön“ sein, 2018 habt ihr eure Ziele gemäß Juhnke definiert (Keine Termine und leicht einen sitzen.) – wird das mit reich und schön bis 2025 klappen? Definitiv nicht.
Zeit für eine neue Prognose – PHANTOM WINTER in zehn Jahren: Keine Termine und stark einen sitzen.

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Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
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