Review Die Kammer – Season I: The Seeming And The Real

  • Label: Eigenproduktion
  • Veröffentlicht: 2012
  • Spielart: Entmetallisiert, Indie Folk

„It’s been a long way from silence…“
Autobiografisch beginnen die beiden Musiker Matthias Ambré (Ex-ASP) und Marcus Testory (Ex-Chamber) ihr neues gemeinsames Baby namens DIE KAMMER. Doch so weit wie es die oben zitierte Textstelle impliziert war der Weg aus der Stille nicht. Durch geschickte Vermarktung erreichte das Projekt bereits vor dem allersten Ton auf Facebook über 1.000 Anhänger, die auf YouTube die „Early Adoptions“ verfolgten. Darin wurde die Reise einer fiktiven Sophie beschrieben, die wiederum sinnbildlich für die beiden Köpfe hinter DIE KAMMER stehen sollte. Mit „The Seeming And The Real“ erreicht die musikalische Reise nun ihren ersten großen Zwischenstopp.

Es war wohl nicht im Sinne von Matse und Marcus mit banalem Klatsch präsenter zu werden, doch allein die Tatsache, dass sich zwei ehemalige enge Wegbegleiter von ASP mit einem neuen Projekt selbständig machten und gleichzeitig u.a. mit Oliver Himmighoffen den damaligen ASP-Drummer rekrutierten, sorgte zeitgleich mit den „Early Adoptions“ für Aufsehen in der Szene. „The Orphanage“ weckte schließlich berechtigte Hoffnungen, dass das neu formierte Duo mit breitem Instrumententeppich das leicht angestaubte Image der Kammermusik orchestral revolutionieren könnte. Umso erstaunter dürfte mancher Hörer reagieren, wenn er merkt, dass „The Seeming And The Real“ musikalisch in eine gänzlich andere Kerbe schlägt, als es die Vorabsingle erahnen ließ. Deutlich ruhiger und weniger pompös vertont DIE KAMMER mit traditionell irischen Instrumenten, Streichern und Blechbläsern höchst anspruchsvolle Kompositionen und verbindet diese mit einem beeindruckenden literarischen Nährwert. Allerdings setzt dieser Ansatz voraus, dass sich Fans aktiv mit der CD und den einzelnen Songs auseinandersetzen. Nur dann erstrahlen die Kompositionen (nicht Lieder, nicht Songs) in voller Blüte.

Über 12 Stücke merkt man deutlich, wie eingespielt die Musiker aufgrund ihrer gemeinsamen Vergangenheit sind. Die Stimmen und Töne greifen im wahrsten Sinne des Wortes spielend in einander. In „The Painter Man’s Spell“ sind es beispielsweise die virtuosen Geigenmelodien von Henning Vater, die zusammen mit der Zither von Ingeborg Roß für eine besondere Note sorgen. In gewissen Momenten spricht nicht nur aus den Sangesstimmen, sondern auch aus den Instrumenten eine hohe emotionale Tiefe und Sehnsucht. Die Wärme des Cellos und der satte Tuba-Sound werden dezidiert eingesetzt, erfordern aber auch ein gewisses musikalisches Gespür.
DIE KAMMER ist ruhige Musik zum Hin- und Zuhören, die ihre Höhepunkte selten aus lauten Akzenten, sondern aus vielen unterschiedlichen Feinheiten, Details und Verschachtelungen zieht. die zusammen ein stimmiges großes Ganzes ergeben. Leicht zugänglich ist dies nicht immer, besonders wenn ASP- und Chamber-Anhänger mit vergleichbarem Material rechnen. Ein bisschen hat „The Seeming And The Real“ etwas von einem guten Wein: Kenner werden sofort die Dichte und Intensität des Werks erkennen. Andere werden länger brauchen, um die wahren Qualitäten zu schätzen zu wissen. Doch nicht wenige dürften an der Komplexität und der Detailverliebtheit scheitern. Wie es der Albentitel nahelegt, geht es um das Sein und den Schein. Und schon bei „Season 1“ wird sich unter den DIE KAMMER-Interessierten ebenfalls die Spreu vom Weizen trennen. Ein mutiger Schritt, aber auch ein wichtiger.

Und Ambré/Testory versuchen vieles: Neben Streichern und Big Band-Anleihen gibt es in „Riding the Crest“ und „Final Days (of Mankind)“ auch erdigen Countrysound. Die Faszination des Gesamtwerks erschließt sich im Fall von „The Seeming And The Real“ aber wohl letztlich am ehesten individuell – ohne Zeilen wie diese zu lesen. Deswegen sei schlussendlich nur noch angemerkt, dass die Musik von Matze selbst und Vincent Sorg technisch einwandfrei auf CD gepresst wurde. Insofern sind alle Voraussetzungen gegeben, um der Kammer eine Chance in der Musiklandschaft zu geben. Aber bitte als Gesamt(kunst)werk. Und als solches verdient das Projekt höchste Anerkennung.

Wertung: 9 / 10

Publiziert am von Uschi Joas

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