Konzertbericht: Rammstein

07.06.2023 München, Olympiastadion

Gleich viermal haben RAMMSTEIN für ihre Stadion-Tour 2023 das Olympiastadion München gebucht und damit einen neuen Rekord aufgestellt. Alle vier Shows waren in kürzester Zeit ausverkauft. Doch das war, man kann es nicht anders sagen, in besseren Zeiten für Deutschlands wohl erfolgreichste Band. Seit Sänger Till Lindemann im Mittelpunkt eines ausgewachsenen Missbrauchsskandals steht, wirken die als Meister der kalkulierten Provokation groß gewordenen RAMMSTEIN wie ein aufgeschreckter Hühnerhaufen. Wurden zunächst noch alle Vorwürfe abgestritten, ermittelt nunmehr eine von der Band beauftragte Anwaltskanzlei in der Sache.

Wie oder ob es überhaupt sein kann, dass die mutmaßlichen Machenschaften von Till Lindemann selbst seinen Mitmusikern verborgen blieben, ist eine legitime Frage. Glaubt man allerdings Stimmen aus dem unmittelbaren Umfeld der Band, wurden die fünf Instrumentalisten von den Enthüllungen über ihren Fronter tatsächlich kalt erwischt. Was das für das Bandgefüge dieses unter Superstars vielleicht einzigartig familiären Ensembles bedeuten mag, lässt sich nur erahnen. Unter solchen Umständen gemeinsam aufzutreten, dürfte jedenfalls alles andere als „business as usual“ sein. Eine Tour diesen Umfangs abzusagen, ist jedoch auch keine realistische Option: Wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtet, wäre in diesem Fall ein zweistelliger Millionenbetrag an Schadensersatz fällig geworden – alleine für die vier Konzerte in München, versteht sich. Zudem hängen an der Tour 500 Arbeitsplätze, die der Band, die ihre Crew stets als Teil der Familie sah, nicht egal sein können.

So heißt es also „Augen zu und durch“ – auf, aber auch vor der Bühne: Anders als bei einem Schauspieler, den man im Kino zumindest in einer Rolle, nicht als „er selbst“ erlebt, lässt sich die Bühnenperson Till Lindemann eben kaum vom Privatmann Till Lindemann trennen: Seine Texte entstammen keinem Drehbuch, sondern sind seine Gedanken – und er selbst entscheidet, wie er auftritt. Dass RAMMSTEIN ihr Konzert mit dem „Rammlied“ eröffnen, ist musikalisch eine gute Entscheidung, funktioniert der Song als Opener doch weitaus besser als „Armee der Tristen“. Dass Lindemann dazu, wie 2011 mit leuchtendem Mund, gottgleich per Aufzug vom Himmel fährt, wirkt angesichts der Situation dennoch vermessen: Von Demut keine Spur, die einstudierte Choreografie wird abgespult. The Show must go on – aber eben nur die Show. Wer weit genug vorne ist und genau hinschaut, findet am heutigen Abend natürlich trotzdem unzählige Hinweise darauf, wie es um die Band bestellt ist. Ein Glück also für RAMMSTEIN, dass ihre auch für diese dritte Tour genutzte Bühnenkonstruktion keine großflächigen Leinwände zulässt und die meisten Fans im weiten Rund des Münchner Olympiastadions vornehmlich Feuer und Licht, nicht aber Gesichtsausdrücke sehen. Denn die sprechen bisweilen Bände.

Lange braucht etwa Paul Landers, ehe aus einer versteinerten Miene ein erstes zaghaftes Lächeln wird. Flake, sonst zu allerlei Späßen aufgelegt, findet heute abseits der einstudierten Nummern quasi nicht statt. Und dass Christoph Schneider am Ende des Hauptsets die Tränen nicht zurückhalten kann, ist ganz sicher nicht bloß der (im übrigen heute gar nicht so gewaltigen) Atmosphäre im Münchner Olympiastadion geschuldet. Dabei hätte das Set durchaus Potenzial für eine gigantische Show gehabt: Die Setlist wurde weiter verfeinert, neben den unausweichlichen Hits wie „Sonne“, „Mein Teil“ oder „Ich will“ gibt es diesmal wieder „Rammstein“ und „Bestrafe mich“ zu hören, die die dafür weggelassenen Songs „Zeig dich“ und „Heirate mich“ gut kompensieren. Vor allem aber sind statt den eher lahmen Nummern „Armee der Tristen“ und „Zickzack“ mit „Angst“ und „Giftig“ zwei Hits ins Set gerückt, die von den Fans schon lange gefordert wurden.

Dass Lindemann bei all den nun bekannt gewordenen Details über seine mindestens moralisch verdorbenen Machenschaften überhaupt noch vor Zigtausenden den großen Zampano geben kann, ist erstaunlich. Verglichen mit früheren Auftritten wirkt der stattliche Mann mit seinem unbestreitbaren Charisma dennoch blass. Auch er spult heute – mehr denn je – sichtlich ein Programm ab: brennendes Herz, brennender Kinderwagen, Feuerrucksack, Flake grillen. Alles wie erwartet, alles schon bekannt. Unter anderen Umständen wäre auch das – neben dem durchwachsenen Sound – ein Angriffspunkt für Kritik gewesen: dass RAMMSTEIN auch für die nunmehr dritte Stadiontour keine neuen Effekte ins Programm genommen haben.

Zweimal jedoch bröckelt die Fassade: Bei der Textzeile „Ich will, dass ihr mir vertraut“ in „Ich will“ muss (oder will?) selbst Lindemann kurz auflachen – und dass „München, danke, dass ihr gekommen seid“ heute als abschließender Dank nicht reicht, merkt Lindemann selbst und stammelt schnell noch ein „dass ihr bei uns seid“ hinterher. Auch sonst sind RAMMSTEIN – wohl zum ersten Mal in ihrer Karriere – bemüht, auf keinen Fall falsch verstanden zu werden: Wie um zu beweisen, dass er heute mal keinen Fick auf „Deutschland“ gibt, geht Lindemann beim „Deutschland“-Remix von Richard Z. Kruspe nur kurz von der Bühne – während des „Leuchtfigurentanzes“ sitzt er, einem in die Ecke gestellten Schuljungen gleich, dann schon wieder deutlich sichtbar am Bühnenrand. Und erstmalig seit Beginn ihrer Stadiontouren im Jahr 2019 verzichten RAMMSTEIN auf ihren anstößigen Party-Hit „Pussy“. Anscheinend ist man sich bei RAMMSTEIN zumindest einig, dass Lindemann vorerst auf genug Fans abgespritzt hat. Als Kompensation bekommen die Münchner „Ohne dich“ in der Band-Version (statt nur als B-Stage-Nummer mit Piano-Begleitung) geboten. Dennoch bleibt das Set einen Song kürzer als bei den bisherigen Shows der Tour.

Bei der ersten Deutschlandshow seit Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Till Lindemann machen RAMMSTEIN die sprichwörtliche gute Miene zum bösen Spiel. Damit kommen sie, dank ihrer nach wie vor beeindruckenden Show und einem mitunter vielleicht etwas zu loyalen Publikum auch fast durch. Und doch wirkt die Institution RAMMSTEIN in ihren Grundfesten erschüttert: Die Musiker wirken verunsichert, Till Lindemanns Brust ist nur noch rein körperlich betrachtet breit. Dass die Band „Pussy“ aus dem Set gestrichen hat, sagt mehr als tausend Worte: Ob Geste des Respekts, Versuch der Deeskalation oder gar Schuldeingeständnis – eine so demütige Reaktion auf Kritik hat man von RAMMSTEIN noch nicht erlebt. Klar ist aber auch: Das allein wird, das allein darf nicht reichen.

  1. Rammlied
  2. Links 2-3-4
  3. Bestrafe mich
  4. Giftig
  5. Sehnsucht
  6. Mein Herz brennt
  7. Puppe
  8. Angst
  9. Zeit
  10. Deutschland (Remix by Richard Z. Kruspe)
  11. Deutschland
  12. Radio
  13. Mein Teil
  14. Du hast
  15. Sonne
  16. Engel (Piano-version mit DUO ABÉLARD)
  17. Ausländer
  18. Du riechst so gut
  19. Ohne dich
  20. Rammstein
  21. Ich will
  22. Adieu

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9 Kommentare zu “Rammstein

  1. Danke für deine reflektierten Beiträge, Kolumnen, Kommentare etc. zum Thema, Moritz. Den in mir schwingenden Ton treffen sie recht genau.

  2. Verheerend finde ich hier mal wieder das „Die ganzen Frauen“ die das behaupten nicht einmal aus einer Handvoll bestehen und im Grundegenommen selbst sagen dass nichts Strafrechtlich relevantes von seitens Lindemann passiert ist(Moralisch ist eine andere Sache)! es gibt derzeit weder Ermittlungen noch Beweise. so wie ja auch klar war dass die Russen Nordstream gesprengt haben(was ja soggar das CIA mittlerweile wiederlegt hat) ist klar, dass Lindemann schuldug ist! Wenn sich bestätigt das Er unschuldig ist, kommt dann von Ihnen auch ein Statement bezüglich der Situation, oder wird dann aufs nächste Thema eingeprügelt?

    1. Ich finde diese unterteilung in „schuldig“ und „nur moralisch schuldig“ reichlich verquer. Selbst wenn, was gut sein kann (aber hier auch nirgends anders behauptet wurde) im konkreten Fall nur ein vollkommen legales System etabliert wurde, um aus einer Machtposition (größter Rockstar Deutschlands) heraus tagtäglich gecastete Mädchen zum Stillen der eigenen Sexsucht zu benutzen würde ich von einem Musiker (wie von einem Politiker, Schauspieler, etc.pp.) erwarten, dass er a) zurücktritt und b) in Therapie geht. Und dieses System ist ja nun keine Unterstellung, sondern wurde aus unzähligen (!) Quellen und von allen möglichen Seiten so bestätigt. Willst du mir wirklich sagen, dass das schon OK so ist, weil die Frauen ja nur etwas überrumpelt und vielleicht eingeschüchtert/verunsichert waren, aber ja eben nicht nein gesagt haben? Dass eine Band, die derartiges OK findet, dann ernsthaft eine moralische Instanz ist, die Songs wie „Ausländer“ singen kann oder die Regenbogenflagge schwenken, ohne sich komplett lächerlich zu machen?

    2. Zum Thema „nicht einmal eine Handvoll“ zitiere ich kurz aus der aktuellen Titelstory des SPIEGEL: „Der SPIEGEL hat mit rund zwei Dutzend Personen gesprochen, auch aus dem engeren Arbeitsumfeld von Rammstein. Darunter sind viele Frauen, die von ihren eigenen Erfahrungen mit der Band und vor allem mit Till Lindemann berichten. Manche davon haben ihre Geschichte bereits anderen deutschen Medien erzählt.“ – und das sind wohl kaum alle, die hier etwas mitbekommen/erlebt haben.

  3. Ich finde der Text könnte als gute Grundlage für eine Diskussion dienen, ja. Polarisiert die Meinung? Mit Sicherheit.

    Reißerisch finde ich den Bericht aber nicht. Es ist eine Einschätzung des Besuchers. Musikjournalisten sind am Ende auch nur Fans und hier ist einer, der die teils feinen Unterschiede beim Konzert bemerkt hat und auch seine Unsicherheit/seinen Unmut über die Situation ausdrückt. Daran ist nichts verwerflich, nein es ist sogar gut so, dass es kritisch beleuchtet wird.

    Rammstein ist aber tatsächlich in seinen Grundfesten erschüttert. Von der unantastbaren Band, die sich in ihrer durchaus entstandenen Machtposition wohlfühlt, ist aktuell nichts mehr zu merken.

    Das ist auch gut so, wenn an den Vorwürfen etwas dran sein sollte. Denn niemand sollte mit derartigem Verhalten durchkommen.

  4. Extrem reisserisch geschrieben. Ich will nicht sagen BILD Niveau aber knapp war es.

    Aktuell sind es nichts als Vorwürfe und Behauptungen. Rechtsbeistand ist normal. Wer würde das angesichts solcher Vorwürfe nicht machen? Den Song rauszuholen und sich allgemein nicht so stark zu präsentieren ist doch verständlich:

    Hier wurden extreme Vorwürfe laut. Sowas lässt einen nicht kalt.

    Ich finde das bis zu einer Verurteilung oder Freispruch ganz klar die Unschuldsvermutung gelten muss. Und das sage ich als NICHT Fan!

    1. Und die „Unschuldsvermutung“ gilt dann nur für Till Lindemann, nicht aber für die ganzen Frauen, die sagen, sie hätten durch ihn (Macht-)missbrauch erlebt? Die sind dann nicht auch erstmal glaubhafte Opfer, sondern denen darf man direkt pauschal eine Tat unterstellen, nämlich, dass sie entweder nur auf Aufmerksamkeit aus sind (was eine schöne Form der medialen Präsenz, ich könnte mir nichts erstrebenswerteres vorstellen), oder halt selbst schuld, weil naiv und dumm, oder ganz generell einfach unglaubwürdig, weil viel zu hässlich, als dass der Till so eine auch nur anfassen würde? Also nur, um das mal zuzuspitzen. Wieso ist Till hier glaubwürdiger (unschuldiger) als all jene, die ihn jetzt unmoralischer Dinge beschuldigen? Ich verstehs nicht, wirklich, erklärs mir bitte.

      1. Natürlich haben die Frauen ein Recht das zu äußern. Ich habe auch nichts Gegenteiliges behauptet.

        Aber du springst mit deinem Text auf den Zug auf und bist dir der Schuld Lindemanns bewusst obwohl du, genau wie wir alle, keine Ahnung hast.

        Das ist nicht mehr kritisch, sondern vorverurteilend. Alleine die Stelle wo du von abspritzen schreibst.

        1. Ich kann dieses „wir alle haben keine Ahnung“ echt nicht mehr hören. Ich will hier nicht die Nazikeule schwingen oder unangemessene Vergleiche ziehen, aber in der verbissenen Sturheit, in der man derzeit überall liest, dass man ja „gar nichts weiß“, erinnert es doch etwas daran, wie sehr ganz Deutschland nichts vom Holocaust mitbekommen haben will.

          Im konkreten Fall gibt es eine DERARTIGE Menge an DECKUNGSGLEICHEN Berichten von Frauen, Mitarbeitern aus der Branche, Menschen aus dem Bandumfeld … was genau wissen wir denn da jetzt nicht? Ja, das meiste dürfte am Ende strafrechtlich nicht greifbar sein – aber: Ist es deswegen unwahr? Moralisch in Ordnung?

          Hier mal ein Überblick: https://www.rnd.de/promis/rammstein-und-tills-girls-eine-rekonstruktion-bis-in-das-jahr-2010-KTABSOWAJJE4DICBZTKQBMLTM4.html

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