Review Till Lindemann – 100 Gedichte

Zehntausende rezitieren rund um den Globus seine Gedichte in deutscher Sprache. Die Rede ist nicht etwa von Goethe oder Schiller, sondern von Till Lindemann. Wenngleich es für den einen oder anderen Literaturwissenschaftler und Deutschlehrer ein Graus sein dürfte, dürfte der Berliner mit seinem Textwerk für Rammstein tatsächlich längst der meistgelesene deutschsprachige Lyriker sein.

Doch Till Lindemann textet nicht nur zur Musik, sondern musiziert auch mit Texten: Nach „Messer“ und „In stillen Nächten“ bringt der Berliner nun seinen dritten Gedichtband heraus: „100 Gedichte“. Ganz loslösen von seinem musikalischen Schaffen kann man diese Werke freilich nicht: Waren schon Passagen aus „In stillen Nächten“ auf „Rammstein“ wiederzufinden, rutschte das Gedicht „Ach so gern“ kurz vor Fertigstellung von „100 Gedichte“ auf „F & M“ von Lindemann.

Ansonsten jedoch stehen Lindemanns Gedichte für sich selbst: Mal als Zweizeiler („Leise“), mal als mehrteilige, mehrseitige Geschichte („Kopf hoch“), mal gereimt, mal nicht, ist die stilistische Bandbreite diesmal größer denn je. Gleich geblieben ist die Wortgewalt, die unverkennbare Sprache von Till Lindemann: Interpunktionslos, auf den ersten Blick oft holprig, findet er doch gerade so stets starke Bilder.

Wie schon das Cover verdeutlicht, sind Penisse und Tiere (und was man damit anstellen kann) auch diesmal Lindemanns zentrale Motive. Da erheitert der eine Text mit einer makabren Pointe im letzten Vers, überrascht der nächste durch bezaubernde Romantik, verstört der nächste auf voller Länge durch rohe Gewalt und Sex-Phantasien. Dazwischen sorgen, wie schon im Vorgängerwerk, Zeichnungen von Matthias Matthies – thematisch durchweg so sexuell wie skurril – für die richtige Atmosphäre.

Doch der Humor von Lindemann steckt nicht nur in den Texten, sondern auch in deren Gesamtheit: „Dreh dich nicht um“ bricht mitten in der Strophe ab und wird so nahtlos in „Das Hündchen wackelt mit dem Schwanz“ fortgeführt, dass es fast wie ein Satzfehler wirkt. Man kann das als Kunstkniff sehen – oder als kleinen Jokus: Am Ende sind es eben doch nur 99 Gedichte.

99 oder 100 – schlussendlich irrelevant. Genug Lyrik enthält „100 Gedichte“ so oder so, wirken die Texte doch für sich genommen und einzeln gelesen sowieso stärker als am Stück verschlungen wie ein Roman. Oder ein totes Tier. Oder …

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3 Kommentare zu “Till Lindemann – 100 Gedichte

  1. Danke für die Info! Ich dachte nur, dass Du (und alle anderen) im Bereich der Musik aufgrund der Erfahrung möglicherweise viel leichter das Detail und die großen Zusammenhänge (so es sie denn gibt) erfassen, einordnen und würdigen kannst. Ansonsten ganz im Sinne Motörheads: „Stay clean!“ Viele Grüße!

  2. Gedichte sind wie Quickies, oder Napalm Deaths „You suffer“. Moritz, ist es Dir leicht gefallen, über Texte zu texten statt über Musik?

    1. Ob Text oder Musik macht eigentlich überraschend wenig Unterschied – wichtig ist ja nur, das zu beschreiben, was man vorliegen hat und es anschaulich in Worte zu fassen. Da ist fast egal, ob es sich um Musik oder Texte handelt. Aber es ist ja auch nicht meine erste Buch-Kritik für Metal1.info. ;)

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