Review Henning Pauly – Babysteps

Im Prog gibt es – wie in jeder anderen Musiksparte auch – ein paar Tausendsassas. Musiker, die sich entweder durch ihre enorme Vielseitigkeit und ihre Fähigkeiten auf den verschiedensten Instrumenten auszeichnen oder die auf so vielen Alben mitspielen, dass der Progfan irgendwann zwangsläufig ihren Weg kreuzen wird.

Wir reden hier von Leuten wie Neal Morse aus Amerika, Clive Nolan aus England oder Arjen Lucassen aus Holland. Doch auch Deutschland hat einen Prog-Vorzeigestar: Henning Pauly ist sein Name – und er bemüht sich redlich, die Bekanntheit der obengenannten Szene-Helden zu erreichen. Genau wie Arjen Lucassen arbeitet er dafür meist mit einigen anderen Sängern und Instrumentalisten zusammen, formt immer wieder mal ein neues Projekt. Neben seiner eigenen Band Chain, die bereits die beiden Alben „Reconstruct“ und „Chain.exe“ veröffentlich hat, hat er in der Szene mit seinem Projekt Frameshift, mit dem er ebenfalls zwei CDs vorgelegt hat, Aufsehen erregt. Am Mikrofon waren dort James LaBrie (Dream Theater) und Sebastian Bach (Skid Row). Dazu gibt es noch eine handvoll Soloalben, unter denen auch sein neuestes Projekt „Babysteps“ strenggenommen einzuordnen ist.Im Prinzip ist diese Unterscheidung in verschiedene Projekte aber hinfällig, die Besetzungskonstellationen sind immer wieder fröhlich anders, und abgesehen von der Tatsache, dass Matt Cash tatsächlich der „offizielle“ Sänger von Chain ist, gibt es wenig feste Besetzungen. Dass ein Michael Sadler (Saga) mal eben den Großteil des Gesangs auf „Chain.exe“ einnimmt, zeigt doch nur, wie viel Henning Pauly von „echten Bands“ hält.

Nun aber wollen wir uns dem neusten Machwerk widmen: „Babysteps“ – ein Konzeptalbum, das eigentlich als Doppel-CD ausgelegt war, aus Zeitgründen jedoch auf einen randvollen Silberling eingestampft wurde. Erzählt wird die Geschichte von Nick, einem Athleten, der durch einen Unfall querschnittsgelähmt ist; durch ärztliche Therapie soll er wieder dazu in die Lage gebracht werden, einige Dinge im Alltag selbst zu übernehmen. Doch er kommt mit seinem Arzt Dr. Raspell (gesungen von James LaBrie) nicht klar. Es kommt zu einem Streit zwischen den beiden – Nick ist emotional nicht in der Lage, die Therapie durchzuführen und Dr. Raspell erkennt das nicht. Doch Nick lernt Matt kennen, einen Cellisten, der einen Autounfall hatte, sich aber bereits auf dem Weg der Besserung befindet. Er empfiehlt ihm seinen Arzt Dr. Sizzla (gesungen von Michael Sadler). Dieser nimmt auf Matts Wunsch Kontakt zu Nick auf und Nick entscheidet sich, die Therapie bei ihm fortzuführen. Nick und Matt werden gute Freunde und Matt hofft, dass Nick ihm in schweren Phasen seines weiteren Lebens helfen wird, wie er Nick jetzt geholfen hat. Soweit zur Storyline des Albums, die äußerlich recht schlicht und einfach daherkommt. In den Lyrics werden die Empfindungen und Ängste, die Sorgen und die Wut aber sehr schön in Worte gefasst. Es geht eher darum, den seelischen Zustand der Charaktere rauszuarbeiten, als eine komplexe Geschichte zu erzählen. Erwähnt werden sollte noch, dass es sich bei der Geschichte um eine wahre Begebenheit handelt.

Musikalisch bewegt sich Henning Pauly in bekannten Gewässern. Wer schon einmal in Berührung mit einem seiner Projekte gekommen ist, weiß, dass Pauly stark auf die Kombination von bombastischem, epischem Progmetal, Hardrock und spritzigem Metal steht. Besonders auf der Gesangsebene kommt seine Vorliebe für Metalshouter immer wieder durch: Sowohl Matt Cash (Matt) als auch Jody Ashworth (Nick) sind Sänger mit einer sehr metallischen, rotzigen Ausdrucksweise – ohne allerdings Stimmen zu haben, die besonders zu glänzen wissen. Dafür hat Pauly wieder mal auf zwei andere Namen zurückgegriffen: Michael Sadler und James Labrie singen ihre Kollegen in Grund und Boden – LaBrie überzeugt vor allem in den ruhigeren Passagen, während Michael Sadler hier mal in einem ganz anderen Zusammenhang als üblicherweise mit Saga zu hören ist. Treibender Progmetal steht dem kanadischen Ausnahmesänger mehr als nur gut, wie auch schon sein Gastspiel auf „Chain.exe“ bewiesen hat. Ansonsten ist „Babysteps“ musikalisch wohldurchdacht. Die Cafeteria ist zentraler Ort der sozialen Zusammenkünfte von Nick und Matt und wird musikalisch in den Instrumentalstücken „Cafe I-V“ umgesetzt. Hier wird ein und dasselbe musikalische Thema immer wieder gekonnt auf verschiedenen Instrumenten variiert und damit unterschiedliche Stimmungen erzeugt. Vom sanften Pianointro bis zur wilden Progmetal-Frickelorgie geht hier die Spannweite. Die Gesangspassagen haben teilweise beinahe Musical-ähnliche Züge, was vor allem daran liegt, dass Pauly ebenso wie Arjen Lucassen auf seinem Album „Human Equation“ mehrere Sänger bzw. Charaktere in einem Song auftreten und abwechselnd das Mikro einnehmen lässt. Durch die teilweise sehr bombastischen und hymnischen Gesangsarrangements, die sicherlich nicht jedermanns Sache sind, und die mit allerlei künstlichen Streichern aus dem Keyboard versehenen Songs, besteht sogar eine kleine Verwandtschaft zu Rockopern wie „Leonardo: The Absolute Man“ von Magellan-Chefdenker Trent Gardner.

Hervorzuheben ist auf jeden Fall der häufige Einsatz eines E-Pianos, das den Songs oftmals einen klassischen Charakter aufsetzt und in den Instrumentaltracks teilweise mit wunderschönen Motiven glänzt. Auch vor modernen Einflüssen wie Drum- oder Sprachsamples schreckt man nicht zurück, auch wenn dies bei Chain noch ausgiebiger ausgelebt wird. Pauly hat fast alle Instrumente, einschließlich des Schlagzeugs, selbst gespielt und zudem das Album selbst gemischt und produziert. Lediglich in zwei Songs dürfen zwei Saga-Gesellen, nämlich Gitarrist Ian Crichton und Keyboarder Jim Gilmour, ein Solo übernehmen. In sofern ist „Babysteps“ glatt ein kleiner Saga-Hobbytreff. Marcus Gemeinder steuert das Piano auf drei Songs bei. Das Schlagzeug spielt über das gesamte Album erstaunlich variantenreich und interessant auf – beinahe verwunderlich, dass Pauly auch diesem Instrument alles andere als eine pure Begleitrolle zukommen lässt. Klare Highlights sind das enorm ohrwurmige „No Tree To Sit Under“, das aggressive „Listen To Me“ und vor allem „A Place In Time“ mit Michael Sadler. Hier groovt, proggt, frickelt und rockt es, dass es eine wahre Freude ist. Auch das versöhnliche, ultramelodische „The Last Song“, mit perlendem Piano und Akustikgitarre, weiß zu gefallen.

Abgesehen von leichten Schwächen in der Gesangsabteilung (Matt Cash und Josh Ashworth) und einer etwas zu künstlichen, sterilen Produktion gibt es an „Babysteps“ absolut nichts auszusetzen – hintenraus ist es vielleicht etwas zu lang geworden, insofern können wir also vielleicht sogar froh sein, dass es nicht der geplante Doppeldecker geworden ist. Es bleibt zu hoffen, dass Henning Pauly irgendwann einmal die Aufmerksam zukommt, die er verdient. Er steht den anfänglich genannten Namen in keiner Hinsicht nach, ist ein studierter Musik-Profi; er arbeitet mit einigen großen Namen der Szene zusammen und hat Alben am Start, die durch und durch empfehlenswert sind, sofern man symphonischem Progmetal etwas abgewinnen kann und Musicals toleriert. Seine Alben werden von Durchlauf zu Durchlauf besser, sind enorm vielseitig und herausfordernd – dafür bekommen wir als Hörer tolle Musik vom unbeachtetesten Prog-Multiinstrumentalist Deutschlands zurück. Neben „Specs Of Pictures Burnt Beyond“ von Zero Hour und „Christ 0“ von Vanden Plas wohl das empfehlenswerteste Progmetal-Album 2006. Hört rein, es lohnt sich!

Wertung: 8.5 / 10

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