Review Evereve – Stormbirds

Zwar kenne ich ihn nicht, aber den Titel des Films „Chronik eines angekündigten Todes“ mochte ich ob seiner bedeutungsschwangeren Tiefe schon immer. Bei EVEREVEs „Stormbirds“ haben wir es scheinbar mit einer ebensolchen zu tun, beging der damalige Frontmann Tom Sedotschenko doch kurze Zeit nach der Veröffentlichung Selbstmord (zu dem Zeitpunkt war er allerdings bereits aus der Band ausgestiegen). Natürlich sollen die Vorfälle hier nicht boulevardmäßig breitgetreten werden, dennoch sollte man es bei der Lektüre der Texte im Hinterkopf behalten, denn der angesprochene Suizid wird tatsächlich regelrecht angekündigt.

Besonders der Doppeltrack „Escape…On Lucid Wings“, sowie das titelgebende „Stormbirds“ zeigen die deutlich auf, „Martyrium“ bringt die Verzweifelung des vereinsamten Individuums zum Ausdruck. Aber auch die restlichen Titel wie etwa „Downfall“ verheißen keine Freudensprünge. An sich ist es etwas unüblich, eine Review mit dem Betrachten der Texte zu beginnen, aus genannten Gründen sind sie an dieser Stelle aber auch einfach wichtiger als bei so manch anderer Veröffentlichung. Wenig überraschend tut die Musik dieser „gotischen Geheimperle“ ihr Übriges dazu. Dies jedoch auf einem sehr überzeugenden Niveau und ausgesprochen variantenreich: Mal sägen die Gitarren wie bei „Fields Of Ashes“, mal wird viel Wert auf melodisches Riffing gelegt, Sedotschenko wechselt zwischen überraschend aggressiven Parts und beinahe zerbrechlich wirkenden Einlagen, die Keyboards sind omnipräsent, aber nie aufdringlich, das Schlagzeug explodiert in Double-Bass-Ausbrüchen, an anderen Stellen akzentuiert es sehr schön die anderen Instrumente (ebenfalls vor allem in „Fields Of Ashes“, ohnehin einer der besten Tracks).

Allerdings sind auch die einzelnen Stücke untereinander ziemlich klar voneinander abgegrenzt, alle Lieder transportieren zwar in etwa dieselbe Atmosphäre und machen „Stormbirds“ so zu einem recht geschlossenen System, dennoch braucht sich kein Song mit dem Vorwurf konfrontiert zu sehen, sich einem seiner Waffenbrüder zu gleichen. Eine hervorragende Lockerung gelingt EVEREVE, indem sie maßgeblich in der ersten Hälfte des Albums insgesamt vier kurze (instrumentale) Zwischenspiele präsentieren, die den roten Faden noch heller erstrahlen lassen. Eine weitere Abhebung vom Einheitsbrei erreichen die sechs Süddeutschen auch durch das sehr gelungene Artwork, welches hauptsächlich in kühlen, weißen Tönen gehalten wird und so trotz der geradezu lieblich anmutenden Schwäne die negative Grundstimmung des Albums weiter vertieft.

Ja, es war ein Freudenfest für die gotischen Musikhörer im Jahr 1998, „Stormbirds“ ist einfach ein von vorne bis hinten ausgereiftes Werk, bei dem so ziemlich alles zu stimmen scheint, vom ausgeklügelten Songwriting über spieltechnische Finessen bis zu einer inneren Ausgewogenheit, denn jedes Instrument liefert sinnvolle Beiträge, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Mal erzeugt man aggressive Stimmung, dann kann sich der Hörer in eine schier unendliche Tiefe fallen lassen und vor allem besteht kaum Grund, sich über künstlerische Fehlgriffe aufregen zu müssen. „Spleen“ ist vielleicht so einer, französisch als Sprache mag ich ohnehin nicht so gerne und da kommt die Vertonung eines französischen Gedichts natürlich denkbar ungünstig. Da der Song auch ansonsten über 4 Minuten nicht viel mehr gibt als reichliches Pianogedudel, muss man ihn zu den Schwachpunkten des Albums rechnen, ebenso wie „Valse Bizarre“, welches mit einer nach Kirmes klingenden Melodie am Ende von „Stormbirds“ irgendwie deplatziert wirkt. Daran ändert auch eine kurze Instrumentalpassage nicht, die nach einigen Minuten Ruhe quasi als Hidden-Track daherkommt. Dies sind aber wirklich nur geringe Mängel, vor allem, weil man die CD ja vor „Valse Bizarre“ ausmachen kann, so dass man mit dem unendlich depressiv wirkenden „A Part Of You“ abtreten kann. Schade, dass man sich mit späteren Outputs in ziemlich belanglosem elektro-Goth verzettelte, aber „Stormbirds“ ist ein wahres Vermächtnis.

Auch 10 Jahre nach Veröffentlichung hat „Stormbirds“ nichts vom Glanz der ersten Tage verloren, ein Album, welches man lieben muss, wenn man auf düstere Musik mit reichlicher Härte steht. Gothic-Fans wie auch offengeistige Freunde der härteren Musikrichtungen können hier fast blind zuschlagen, aber auch jeder andere ist mindestens zu dem einen oder anderen Probelauf aufgerufen.

Wertung: 9 / 10

Publiziert am von Jan Müller

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