Interview mit Diana Burkot von Pussy Riot

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Klimawandel und Krieg, Rassismus, Hass und Ausbeutung: Tagtäglich werden wir mit negativen Nachrichten aus aller Welt bombardiert. Doch so wichtig es ist, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, so wichtig ist es auch, das Positive im Blick zu behalten. Neben dem oft bitter nötigen „Eskapismus durch Musikgenuss“ bietet die Metal-Szene hierfür (bei allen nicht zu leugnenden Problemen) jede Menge tolle Projekte. In unserer Interview-Serie „HEAVY … aber herzlich!“ stellen wir euch sozial, ökologisch oder politisch engagierte Vereine, Veranstaltungen und Personen vor, die uns Mut und die Welt zu einem besseren Ort machen.

In Teil 8 dieses Specials sprachen wir mit der Diana Burkot über den politischen Aktivismus von PUSSY RIOT, das postsowjetische Russland sowie über ihr Projekt SWEAT AND BLOOD und Musik ganz generell als Ausdrucksform der Systemkritik.

Mehr Informationen zu PUSSY RIOT und Diana findet ihr auf www.pussyriot.love sowie auf Facebook (Diana Burkot / PUSSY RIOT) und Instagram (Diana Burkot / PUSSY RIOT).

Erzähle uns ein bisschen was über Dich. Wer bist Du und wie bist Du zur Musik gekommen?
Mein Name ist Diana Burkot. Mit etwa 6 oder 7 Jahren begann ich, Musik bewusster wahrzunehmen – sie wurde für mich der emotionalste Weg, die Welt zu erkunden und zu verstehen. Anfangs war mein Musikgeschmack nicht gerade anspruchsvoll; ich hörte ziemlich schlechte Musik, zum Beispiel späten 90er-Jahre-Russian-Pop – frühe Tatyana Bulanova etwa. Es ging nur um Trauer und Tränen, richtig kitschige Themen, aber sie lösten starke Emotionen in mir aus. Damals, und auch später, wurde das Weinen zur Musik ein Teil meines Lebens. Nicht lange danach wusste ich, dass ich Musik machen und Musikerin werden wollte. Ich hatte nie Zweifel daran, was ich mit meinem Leben anfangen wollte – in dieser Hinsicht hatte ich wohl Glück. Aber ich konnte erst mit 18 anfangen, Musik zu studieren, was sich ziemlich spät anfühlte. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, und irgendwann hatten meine Eltern weder die Zeit noch die Energie oder das Geld, um mir Klavier-, Gitarren- oder Gesangsunterricht zu ermöglichen. Ich ging zu den ersten zwei oder drei Stunden, erzählte dem Lehrer, ich hätte vergessen, das Geld von meinen Eltern mitzubringen, und wenn die Situation zu unangenehm wurde, hörte ich einfach auf.

Als ich 18 wurde, nahm mich mein Vater als eine Art Assistentin mit zur Arbeit – es war nur ein Teilzeitjob. Etwa zur gleichen Zeit ermutigte mich mein Freund, ein sehr talentierter Musiker, dazu, Musik ernsthaft zu verfolgen. Ich dachte, ich hätte meine Chance, damit anzufangen, bereits verpasst, aber er drängte mich zum Studium. Mit dem Geld, das ich verdiente, konnte ich mich an einem Jazz-College für improvisierte Musik einschreiben, mit Schlagzeug als Hauptfach. Ich hatte immer noch das Gefühl, dass es für mich zu spät war, aber Schlagzeug cool – und im Gegensatz zu anderen Instrumenten brauchte ich kein perfektes Gehör, was eine Erleichterung war, denn mein musikalisches Gehör war damals alles andere als ideal.

Musik war schon immer ein Teil von mir – sie ist meine Leidenschaft. Natürlich gibt es darin mathematische Konzepte und Technik, aber für mich bleibt sie etwas Abstraktes und Schönes – eine unendliche Welt, die ich für immer erkunden könnte. Das einzig Traurige ist, dass ein einziges Leben nicht ausreicht, um alles zu entdecken. Ich setze mein Studium derzeit an der Kunstuniversität von Island fort, wo ich meinen Master in NAIP (New Audiences and Innovative Practice – der Studiengang ermöglicht zukünftigen professionellen Musiker*innen das Wissen und die Fähigkeiten, künstlerisch flexibel zu werden und sich an vielfältige gesellschaftliche Kontexte anzupassen) abschließe. Dieses Studium hat mir eine Fülle neuer Inspirationen gegeben und meinen Horizont erweitert. Ich bin völlig offen für neue Ideen und Möglichkeiten. Eines Tages hoffe ich, Projekte zur Sonifizierung von Informationen und komplexe technische Audioinstallationen zu entwickeln – auch wenn ich zugeben muss, dass meine Kenntnisse in Mathematik, Physik und anderen damit verbundenen Wissenschaftsfeldern nicht gerade meine Stärke sind. Die akademische Musik hat mir eine völlig neue Perspektive eröffnet. In Island, wo ich jetzt lebe, gibt es so viele unglaubliche Komponisten, und ich hoffe, dass ich eines Tages in diesem Bereich etwas wirklich Beeindruckendes schaffen kann.

Pussy_Riot_04Du wurdest 1985 geboren, sechs Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in Lyubertsy, einem Vorort von Moskau. Wie hast du deine Kindheit und frühen Teenagerjahre in den 1990er Jahren erlebt, einer Zeit des großen Umbruchs?
Es war eine sehr dunkle Zeit. Irgendwann hatte meine Familie nicht mehr genug Geld für Essen. Meine Eltern gerieten während meiner frühen Kindheit in einen Gang-Konflikt, was leider damals häufig vorkam, und trennten sich dann. Ich verbrachte meine Zeit damit, in verlassenen Häusern abzuhängen, den billigsten Alkohol zu trinken und Zigaretten zu rauchen – damals war es für Kinder leicht, diese Dinge in Geschäften zu kaufen. Auf einer damaligen Party wurde meine Freundin von drei Typen vergewaltigt, die eigentlich unsere Freunde sein sollten. Später starben ihre Großeltern unter mysteriösen Umständen, und dann verschwand ihr Vater. Er war ein „Lyuber“ – so nannte man die Gangster in Lyubertsy. Es war eine gefährliche Gegend, in der man einfach verprügelt werden konnte, nur weil man die falsche Kleidung trug oder eine unkonventionelle Haarfarbe hatte. Ich schnüffelte Kleber, streifte durch die Straßen, und aus purer Langeweile warf ich einmal einen Stein gegen ein Fenster. Ich wusste nicht, wer dort wohnte, ich zerbrach einfach das Fenster und rannte weg. Ich war ein Punk, ein harter Teenager. Aber es gab natürlich auch Licht – obwohl alles ziemlich melancholisch und traurig war. Eine meiner größten Ängste war es, mein ganzes Leben dort zu verbringen und am gleichen Ort zu sterben, an dem ich geboren wurde. Die 90er in Lyubertsy waren beängstigend, aber ich bin froh, dass ich ab der 5. oder 6. Klasse einige wunderbare Freundinnen gefunden habe. Es war so viel besser, all das mit ihnen gemeinsam durchzustehen. Es war eine Schule des Überlebens, und wie viele Menschen, die zurückblicken, frage ich mich manchmal, wie ich es geschafft habe, nicht zu sterben.

Du warst ursprünglich der Schlagzeuger des feministischen Punk-Kollektivs PUSSY RIOT. Könntest du kurz erklären, was PUSSY RIOT ist und worum es in diesem Projekt geht? Wie und warum wurde PUSSY RIOT gegründet, wie ist es strukturiert und wie bist du mit den Aktivist*innen in Kontakt gekommen?
Die Gruppe wurde 2011 gegründet, dank Nadya und Katya. Kurz darauf entschieden sie, dass eine Expansion notwendig war – allgemein gesprochen beinhaltete dies die Zusammenarbeit mit Musiker*innen. Ursprünglich, als Katya und Nadya PUSSY RIOT ins Leben riefen, war es Teil einer größeren oppositionellen politischen Bewegung, den Protesten von 2011. Sie wollten politischen Protest durch künstlerische Aktionen mit starkem feministischen Fokus durchführen. Zu dieser Zeit hing ich oft im Elektrozavod ab, einem riesigen, alten Fabrikgebäude, gothic style, mit mehreren Sektionen. Damals wurde das Gebäude größtenteils für verschiedene Zwecke vermietet. Es beherbergte einen Proberaum und ein Studio namens „Destroy the Humanity“. Irgendwann fragte mich jemand, ob ich den Mädchen helfen könnte, indem ich ein Lied schreibe und Schlagzeug für einen Song spiele. Zu dieser Zeit hatte ich viel Freizeit, also dachte ich, warum nicht? Wir nahmen ein Lied für die Aktion auf dem Roten Platz auf, „Putin Pees His Pants“, aber kurz nach den Proben und der Aufnahme luden mich Katya und Nadya ein, an der Aktion persönlich teilzunehmen – nicht nur als Musikerin, sondern auch als Aktivistin. So war ich sofort in den Aktivismusprozess involviert. Diese PUSSY-RIOT-Aktion war meine erste, genauso wie sie es zum Beispiel für Maria Alyokhina (eine der drei anderen Aktivistinnen, die 2012 am legendären „Punk-Gebet“ in der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche teilnehmen sollten und anschließend verurteilt wurden) und einige der anderen Mädchen war – manche von ihnen entschieden sich später aufgrund von Problemen mit der Polizei, nicht mehr an zukünftigen Aktionen teilzunehmen.

PUSSY RIOT ist nicht nur eine Band; es ist ein feministisches Kunst-Aktivistinnen-Kollektiv, das die Rechte von Frauen, LGBTQ+-Rechte, Meinungsfreiheit, die Grundlagen der Demokratie, Unterstützung für Sexarbeiterinnen und vieles mehr unterstützt. Aber alles ist miteinander verbunden, und ein Schlüsselelement ist die aktive politische Haltung, die wir einnehmen. Jedes Mitglied hat seine eigenen Werkzeuge und Strategien, und unsere Weltanschauungen können stark variieren. Es ist eine Gemeinschaft von Aktivistinnen, Musikerinnen, Künstlerinnen, Filmemacherinnen und vielen mehr. Das mag trivial klingen, aber ich muss es immer noch manchmal den Organisator*innen erklären, dass es nicht so ist, dass ich, Nadya und Masha zusammen auf der Bühne stehen – wir treten nicht als Punkband auf. Als Mitglied von PUSSY RIOT wurde ich von den „Suffragetten“ (Russische Feministinnen, die sich im frühen 20. Jahrhundert, während der Februarrevolution 1917, unter anderem für das Frauenwahlrecht und politische Teilhabe von Frauen eingesetzt haben. Das Wahlrecht für Frauen in Russland wurde im selben Jahr eingeführt) inspiriert. Wusstest du, dass der Hungerstreik als politisches Mittel von ihnen erfunden wurde? Über 100 Jahre sind vergangen, und es ist immer noch eines der Werkzeuge des Aktivismus. Die Suffragetten nutzten auch die Gerichte als politisches Werkzeug, indem sie ein Schwurgerichtsverfahren forderten, weil es ihnen die Möglichkeit gab, ihre Position der Gesellschaft zu präsentieren, die Ungerechtigkeit der Gesetze aufzudecken und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Sie nutzten die Gerichte als Plattform, um ihre Ideen zu verbreiten. Als die Mädchen wegen der PUSSY-RIOT-Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale vor Gericht standen, nutzten sie ihr „letztes Wort“ als politische Aussage. Ganz allgemein gibt es noch viele andere Bewegungen, einzelne Aktivist*innen und Künstler*innen, die PUSSY RIOT beeinflussen. So hochgestochen es auch klingen mag, die Mission von PUSSY RIOT ist es, auf allen möglichen Wegen und in allen Formen für Rechte und Freiheiten zu kämpfen.

Am 24. Dezember 2011 protestierten etwa 100.000 Menschen auf dem Roten Platz gegen Putin – etwas, das heute fast unvorstellbar erscheint. Kannst du uns mehr über die ersten PUSSY-RIOT-Aktionen damals erzählen? Warst du an diesen Performances beteiligt, und wie siehst du die Veränderung der Möglichkeiten, in Russland Protest auszudrücken, seitdem?
Die erste PUSSY-RIOT-Aktion fand 2011 mit dem Song „Death to Prison, Freedom to Protest“ statt, der auf dem Dach einer Garage gegenüber der Polizeistation aufgeführt wurde, in der Aktivist*innen und unabhängigen Politiker*innen festgehalten wurden, nachdem die von dir erwähnten Bolotnaya-Platz-Proteste stattgefunden hatten. Diese Aktion erregte nicht viel öffentliche Aufmerksamkeit, aber sie ist mir persönlich unglaublich wichtig, weil sie Solidarität und gegenseitige Unterstützung repräsentiert. Zu dieser Zeit war Navalny (Russischer Oppositionspolitiker, der 2020 mutmaßlich vom Putin-Regime mit dem Nervengift Novichok vergiftet, 2022 inhaftiert wurde und 2024 unter nicht vollständig geklärten Umständen in Haft verstorben ist) in dieser Polizeistation, zusammen mit Yashin (ebenfalls russischer Oppositionspolitiker) und vielen anderen mutigen Menschen, die keine Angst hatten, ihre politischen Ansichten kühn und offen zu verkünden. Ich habe an dieser Aktion nicht teilgenommen, aber sie ist mir sehr ans Herz gewachsen, weshalb ich eine neue Version des Songs erstellt habe und ihn als Teil meines SWEAT-AND-BLOOD-Programms aufführe.

Und natürlich hat sich seitdem alles verändert. Wenn man 2011 für eine Aktion auf dem Roten Platz noch mit 5-6 Stunden Befragungen in einer Polizeistation davonkam, würde man heute für etwas Ähnliches wahrscheinlich mit 10 Jahren Haft im Arbeitslager verurteilt werden. Das repressive System in Russland verschlingt heute jeden, der ihm in den Weg kommt, bricht ihn und spuckt ihn wieder aus.
Ich habe bemerkt, wie gerne Menschen Russland von angeblich demokratischen anderen Ländern trennen. Schau dich nur um: Der Individualismus im Jahr 2025, durch die Linse politischer Ambitionen betrachtet, züchtet rücksichtslose Narzissten und Soziopathen, die Politik nach den Gesetzen des Kapitalismus und der Unterhaltungsindustrie betreiben oder alternativ Neo-Faschisten – Fanatiker. Es ist völliger Wahnsinn, unglaublich ansteckend, und breitet sich weltweit aus. Niemand weiß, was der morgige Tag für uns alle bringen wird.

An welchen anderen Aktionen, die im Westen möglicherweise nicht wahrgenommen wurden, warst du beteiligt?
Zum Beispiel „Warum braucht ein hungriger alter Mann den Tag der Siegesparade?“ Das ist unglaubliche Heuchelei. In Russland gibt es ältere Menschen, darunter auch Veteranen des Zweiten Weltkriegs, die kaum genug Geld für Essen haben. Sie leben unter schrecklichen Bedingungen, weil der Staat sie nicht unterstützt. Viele sind gezwungen, ihre Ehrenmedaillen zu verkaufen, nur um die Stromrechnung zu bezahlen, während Russland jedes Jahr am 9. Mai die sogenannte Siegesparade abhält, um den Sieg über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg zu feiern. Diese hat ein riesiges Budget, und dieses Geld wäre viel besser bei den Rentnern angelegt, die nur von Brot, Kohl und Kartoffeln überleben. Ich lehne jegliche Darstellung von Waffen vollständig ab – all diese Panzer und Militärflugzeuge am Tag des Sieges. Natürlich ist das nichts anderes als Propaganda – eine Methode, um ausgebeutete Arbeiter glauben zu lassen, dass sie irgendwie besonders sind, dass Leiden eine Tugend ist.

In Zusammenarbeit mit Katrin Nenasheva und Sasha Starost (Künstlerinnen und Aktivistinnen, die z.B. mit dem Kollektiv „PsychoAktive“ das Bewusstsein für unzureichende psychologische Therapiemöglichkeiten in Russland schaffen wollen) haben wir das Performance-Art-Stück „Rave 228“, geschaffen. Es ist eigentlich keine Aktion, sondern eher eine Form des Aktivismus. Im Kontext von manipulierten Strafverfahren in Russland, insbesondere solchen, bei denen Drogen untergejubelt werden, wird häufig Artikel 228 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation zitiert, der oft als „Volksartikel“ bezeichnet wird. Dieser Artikel – „Illegale Beschaffung, Lagerung, Transport, Produktion oder Verarbeitung von Betäubungsmitteln“ – ist berüchtigt für seinen weit verbreiteten Missbrauch. Laut Menschenrechtsaktivist*innen verbüßen bis zu einem Viertel aller Gefangenen in Russland Haftstrafen wegen Drogenvorwürfen. Viele von ihnen sind Opfer manipulierter Fälle, bei denen die Polizei Drogen unterjubelt, um ihre Festnahmequoten zu erfüllen. Im Gegensatz zu echten Drogenhändlern sind vor allem normale Bürger*innen – insbesondere junge Menschen – die Hauptziele. Sie werden oft von den Strafverfolgungsbehörden hereingelegt, unter Druck gesetzt, Geständnisse zu unterschreiben und schließlich ohne faire Prozesse verurteilt. Im russischen Justizsystem gibt es unter diesem Artikel praktisch keine Freisprüche. Selbst wenn klare Formverstöße vorliegen, werden die Angeklagten zu Gefängnisstrafen verurteilt, anstatt freigesprochen zu werden. Dieser Artikel wird auch als Werkzeug politischer Repression genutzt. Die russischen Behörden wenden ihn häufig an, um Aktivistinnen, Journalist*innen und Oppositionelle zu diskreditieren.

2019 wurde der russische Journalist Ivan Golunov, bekannt für seine Korruptionsermittlungen, mit untergejubelten Drogen hereingelegt und in Moskau festgenommen. Ihm wurde der Versuch des Drogenhandels vorgeworfen, eine Anklage, die bis zu 20 Jahre Haft hätte zur Folge haben können. Dieser fabrizierte Fall löste eine riesige Welle von Protesten in ganz Russland aus. Die Kampagne #ЯМыГолунов („Wir sind Golunov“) vereinte Journalistinnen, Aktivistinnen und Bürgerinnen, die seine Freilassung forderten. Unter intensivem öffentlichen und medialen Druck brach der Fall schließlich zusammen, und Golunov wurde nach fünf Tagen freigelassen. Es war ein seltenes Beispiel, in dem massenhafte Solidarität dazu führte, dass die Anklage fallen gelassen wurde. Dieser Fall bleibt jedoch ein starkes Symbol für die repressiven Taktiken der russischen Regierung und die fortwährende Verfolgung unabhängiger Journalistinnen.
Und das ist nur ein Beispiel – es gibt unzählige weitere.

Wie nimmst du Russland und die russischen Menschen heute wahr?
Wie arme, verängstigte Menschen, die bereit sind, an den russisch-orthodoxen Gott zu glauben, der vom Patriarchen Kirill entstellt wurde, oder an esoterische Gesetze und sogenannte Egregore (sonstige spirituelle Entitäten), die starke Hand eines Tyrannen oder alles, um der Realität zu entkommen. Aber auch eine unglaublich schöne Kultur und ein wunderschönes Land, Natur, Geschichte und erstaunlich talentierte Menschen, die lebendig vor die Hunde gehen – es ist alles sehr traurig. Und ich bin eine von ihnen. Ich möchte sagen, dass ich mich nicht von diesen Menschen getrennt sehe – wir haben alle viel mehr gemeinsam, als es vielleicht scheint. Ich glaube wirklich, dass ein Mangel an Liebe sowohl den schlimmsten als auch den besten Dingen, die Menschen tun, zugrunde liegt. Ich hoffe, dass wir eines Tages alle den Mut haben werden, aufzuhören, uns selbst und einander zu verletzen.

Im Jahr 2012 warst du Teil der wahrscheinlich bekanntesten Aktion von PUSSY RIOT, dem „Punk Prayer“ in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale, dem Zentrum des russisch-orthodoxen Glaubens, und konntest unentdeckt entkommen. Erst 2020, als die Straftat verjährt war, enthüllte Nadya Tolokonnikova in einem Interview deine Identität. Wie hast du es geschafft zu entkommen, und wie hast du die acht Jahre danach verbracht?
Die PUSSY-RIOT-Aktion in der Kirche war die vierte. Ich war Teil dieser Aktion. Nachdem Katya, Nadya und Masha von der Polizei festgenommen wurden, erhielt Katya eine zweijährige Bewährungsstrafe, während Masha und Nadya ihre Strafen im Straflager verbüßten. Ich habe mich separat von den Mädchen versteckt, als die Polizei sie erwischte; die drei waren zusammen. Ich habe nicht nach Ärger gesucht, ich habe versucht, sehr vorsichtig zu sein und blieb acht Jahre lang anonym wegen des Strafverfahrens. Erst als die Verjährungsfrist abgelaufen war, wurde mein Name enthüllt. Was mich gerettet hat, war nicht die Aufregung oder Abenteuerlust, sondern vielmehr mein Selbsterhaltungstrieb. Ich kann nur für mich sprechen – jedes der Mädchen hat diese Momente auf ihre eigene Weise erlebt und durchlebt. Das alles war sehr schwierig für mich. Ich nahm einen anderen Weg, der zu viel mentalem Trauma führte. Mein Telefon wurde abgehört, ich wurde eine Zeitlang in meinem Leben verfolgt, und ich lebte in ständiger Angst und Paranoia.

Repression kann viele Formen annehmen. Man kann jemanden körperlich ins Gefängnis sperren oder seine psychische Gesundheit zerstören. Ich hatte Angst und war kaum in der Lage, meine Erfahrungen mit jemandem zu teilen. Mein damaliger Freund lachte über mich und verharmloste die emotionale Belastung, die ich durchlebte. Ich bin froh, dass das jetzt hinter mir liegt. Das alles erscheint im Vergleich zu dem, was andere ertragen müssen, lächerlich – Folter ist in Russland zur Norm geworden… all das kann auch zur Sublimierung und inneren Emigration führen. Ich erinnere mich, dass ich einen sehr realistischen Traum hatte, in dem die Polizei kam, die Tür mit einem Generalschlüssel öffnete, mich schlafend ansah und sich dann einen Spaß daraus machte, eine der Frikadellen in der Küche zu essen. Es war wie eine Szene aus einem Gaslighting-Thriller, in dem man beginnt, am eigenen Verstand zu zweifeln. Ich wachte auf und war vollkommen überzeugt davon, dass es wahr war. Ich erzählte es sogar einem meiner Lehrer an der Kunstschule, und er lachte mich aus. Jetzt finde ich es auch lustig, aber damals war ich völlig durch den Wind. Außerdem habe ich viele Zombie-Apokalypse-Filme in dieser Zeit geschaut (lacht). Ich habe in den 8 Jahren viele unterschiedliche Dinge gemacht: Ich war in der Aktivismus-Szene aktiv, habe an der Kunsthochschule studiert, spielte Schlagzeug in Bands, machte elektronische Musik, sang, drehte Videos, ging auf Touren, arbeitete in verschiedenen Jobs, verliebte mich und wurde enttäuscht… Ich habe viele Fehler in meiner Jugend gemacht, einfach, weil ich mein Leben lebte.

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PUSSY RIOT in seiner ursprünglichen Form existiert nicht mehr. Der Verkauf von Musik, unter anderem, scheint besonders problematisch für die anti-kapitalistischeren Mitglieder gewesen zu sein. Wie genau sollen wir uns PUSSY RIOT heute im Vergleich zu den frühen Jahren vorstellen?
Ich war unter den Mitgliedern, die beschlossen, eine anti-kapitalistische kritische Stellungnahme zur Band selbst durch die Aktion „Action, Action, Pussy Riot Liquidation“ zu machen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte ich sehr radikale linksgerichtete Ansichten – so begann die PUSSY-RIOT-Geschichte. Ich bin wirklich froh, dass dieses Statement existiert, weil der Graubereich viel breiter ist, als es vielleicht scheint. Ich stelle viele ethische Fragen, sowohl mir selbst als auch den Menschen um mich herum. Jetzt entwickelt sich das Kollektiv in verschiedene Richtungen, und ja, manchmal bedeutet das, für Geld zu arbeiten. Ich sehe darin nichts Verkehrtes mehr. Solange man im Einklang mit seinen Ansichten und seinem Gewissen handelt, ist es nicht falsch, dadurch auch das eigene Leben zu finanzieren. Heute umfasst PUSSY RIOT Theater, Konzerte, DJ-Sets, Videos und Filme, Musik, Ausstellungen, öffentliche Gespräche, Aktionen und andere Performances. Es hängt alles von den einzigartigen Fähigkeiten und Leidenschaften der Teilnehmer ab – einige Mitglieder konzentrieren sich mehr auf politischen Aktivismus, andere auf Dokumentation und Filmproduktion, und wieder andere sind Musiker. Jeder Einzelne bringt die eigene kreative Energie und den politischen Fokus in das Kollektiv ein und prägt so dessen sich ständig weiterentwickelnde Ausdrucksweise. Heute gibt es mehr Wege, dieses Konzept zu verwirklichen, einfach weil neue Möglichkeiten entstanden sind und sich die Umstände verändert haben. Sogar ein Interview ist eine Form von Aktivismus.

Die Mitglieder, die damals involviert waren, sind jetzt über den gesamten Globus verstreut und verfolgen verschiedene Projekte unter dem Namen PUSSY RIOT. Steht ihr in regelmäßigem Kontakt und koordiniert eure Aktionen?
Ich kann nur für mich selbst sprechen, aber ja, ich versuche, meinen ethischen Prinzipien treu zu bleiben und meine Aktionen mit den anderen Mitgliedern zu koordinieren. Gleichzeitig strebe ich jedoch mehr Unabhängigkeit an. Wie ich bereits sagte, PUSSY RIOT ist kein Kult, aber ein Ehrenkodex sollte immer vorhanden sein, egal wie sich die Dinge entwickeln.

Im Allgemeinen sind die Videos, die unter dem Namen PUSSY RIOT veröffentlicht werden, sehr professionelle und medienwirksame Produktionen. Wie finanziert ihr solche Veröffentlichungen?
Du sprichst wahrscheinlich von Nadyas Videos. Ich denke, sie wollte einfach hochwertige visuelle Inhalte erstellen und damit experimentieren. Was das Video „Swan Lake“, an dem ich beteiligt war, betrifft, war das Budget ziemlich klein. Ich habe das Video tatsächlich selbst geschnitten, was geholfen hat, die Kosten niedrig zu halten. Wir hatten wunderbare Leute dabei, die uns geholfen haben, das Projekt zum Leben zu erwecken – sie waren unglaublich verständnisvoll und unterstützend, was es einfacher machte, die Ausgaben zu minimieren. Aus meiner Erfahrung erfordert Kreativität nicht immer ein großes Budget. Zurzeit gebe ich die Hälfte meines Einkommens für das SWEAT-AND-BLOOD-Projekt aus und den Rest für die grundlegenden Lebenshaltungskosten. Ich investiere das, was ich verdiene, in das, woran ich glaube, und nicht in bloßen Konsum.

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In den letzten Wochen warst du mit deinem eigenen Projekt SWEAT AND BLOOD auf Tour in Deutschland. Ursprünglich war es eine Serie von Videostatements, die unter anderem 2018 im Multimedia Art Museum in Moskau ausgestellt wurden. Jetzt ist auch Musik dabei. Kannst du das Konzept dahinter genauer erklären?
Die erste Vorstellung des Projekts war im „Garage Museum of Contemporary Art“ in Moskau, wo es als Video-Installationen präsentiert wurde. Manchmal bin ich vollkommen in das Projekt vertieft, während ich es zu anderen Zeiten wieder beiseite lege und nach ein oder zwei Jahren zurückkehre, wenn ich neue Ideen oder künstlerische Richtungen zu erkunden habe. Momentan arbeite ich an dem Album „Sweat And Blood“ und entwickle das Projekt auch als Ausstellung weiter. Das SWEAT-AND-BLOOD-Projekt ist eine künstlerische Methodologie, um die Welt in ihrer Gesamtheit zu verstehen. Ich bin die Autorin und arbeite mit anderen zusammen, die Mit-Autoren sind, um soziale, politische, wirtschaftliche, kulturelle, technologische (einschließlich der Interaktionen mit Technologien, die das menschliche Verständnis übersteigen könnten, wie KI) und philosophische Phänomene zu erforschen. Diese sind getrennt, aber miteinander verbunden und bilden ein einheitliches Ökosystem. Manchmal ist der Fokus ziemlich eng, zu anderen Zeiten verschiebt er sich je nach den Zielen des Projekts und manchmal weitet er sich auf einen breiteren Kontext aus. Dazu gehört die Untersuchung der Interaktion dieser Phänomene miteinander, mit Menschen, mit Gruppen von Menschen (wie Nationen) und mit Konzepten wie Zeit, Erinnerung, Macht, Vorstellungskraft, den Gesetzen der Physik und anderen undefinierten, aber wichtigen Aspekten, die während des Prozesses entstehen oder entdeckt werden können. Das grundlegende Prinzip des Projekts: „Die Idee ist primär, gefolgt von der Form; Material ist sekundär, wenn es als notwendig erachtet wird.“

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Das Projekt wurde bereits als als Video-Kunst, Musik, Performances, zeitgenössische Kunst in Museen oder Galerien, visuelle KI-Generierung, Texte, öffentliche Gespräche und Poesie umgesetzt – aber ich hoffe, es wird sich weiter entwickeln. Du kannst dir das als meine Version des Marvel-Universums vorstellen (lacht).
Wenn wir speziell über das Album sprechen, ist sein Konzept in der feministischen politischen Theorie „Das Persönliche ist Politisch“ verwurzelt. Diese Idee gewann an Bedeutung während der feministischen Bewegung der zweiten Welle in den 1960er und 1970er Jahren. Carol Hanisch, eine der Schlüsselfiguren, die mit diesem Konzept in Verbindung gebracht wird, schrieb 1969 einen Aufsatz mit dem Titel „Das Persönliche ist Politisch“. Obwohl sie den Begriff nicht prägte, festigte ihre Arbeit ihn als einen entscheidenden Teil des feministischen Diskurses. Dieses Konzept besagt, dass persönliche Erfahrungen – insbesondere die von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen – nicht isoliert sind, sondern tief mit sozialen und politischen Strukturen verknüpft sind. Persönliche Kämpfe sind demnach keine individuellen Misserfolge, sondern das Ergebnis systemischer Probleme wie Patriarchat, Diskriminierung und Repression.

Die „Theorie der kleinen Taten“ (oder „Die Theorie der kleinen Handlungen“) ist in der ethischen und politischen Philosophie verankert, insbesondere in Bezug auf die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft. Dieses Konzept geht davon aus, dass bedeutende gesellschaftliche Veränderungen nicht nur durch Revolutionen oder groß angelegte Bewegungen herbeigeführt werden, sondern auch durch die kleinen, konsequenten Handlungen, die von Individuen ausgeführt werden. Es ist zwar schwierig, diese Theorie einem bestimmten Autor zuzuordnen, doch sie stimmt eng mit der Philosophie von Hannah Arendt (1906–1975) überein, die sich mit der zivilen Verantwortung und der Teilnahme am öffentlichen Leben beschäftigte. Sie steht auch in Verbindung mit den Werken von Albert O. Hirschman (1915–2012), der Strategien für sozialen Wandel untersuchte.

Michel Foucault (französischer Philosoph) führte das Konzept der „Biopolitik“ ein, um zu beschreiben, wie Macht das Leben der Menschen auf der Bevölkerungsebene regiert. Im Gegensatz zu traditionellen Machtformen, die sich auf Bestrafung und Repression konzentrierten, reguliert die Biopolitik das Leben, indem sie Faktoren wie Geburtenraten, Sterblichkeit, Gesundheitsversorgung, Sexualität und andere Aspekte der biologischen Existenz innerhalb der Gesellschaft kontrolliert. Diese Macht manifestiert sich in Institutionen wie der Medizin, der Statistik und staatlichen Regelungen, die Verhaltensnormen prägen und Standards dafür festlegen, was als „gesunde“ Bevölkerung gilt. Foucault verband die Biopolitik mit dem Konzept der „Biopower“ – einer Machtform, die nicht auf Zwang beruht, sondern die Lebensprozesse verwaltet. Staaten und Institutionen nutzen Biopolitik, um Arbeitsressourcen zu optimieren, die Körper der Bürger zu kontrollieren und die individuelle Subjektivität zu gestalten. In der heutigen Welt ist Biopolitik in Themen wie Impfpolitik, reproduktive Rechte, Quarantänemaßnahmen und sogar digitale Überwachung sichtbar, was verdeutlicht, wie Macht nicht nur das Verhalten, sondern auch die biologische Existenz der Individuen reguliert.

Die Lieder erforschen sowohl persönliche als auch kollektive Traumata und schöpfen aus Lebenserfahrungen, die eine breitere gesellschaftliche Unterdrückung und Einschränkungen der Freiheit widerspiegeln, insbesondere in Russland, obwohl die Themen global nachhallen. Das Konzept der inneren Emigration – bei dem sich Individuen von ihrer Regierung und Kultur entfremdet fühlen – ist zentral für das Projekt. Das Ziel ist es, individuelle Leben hervorzuheben und zu zeigen, wie die Erfahrungen jedes Einzelnen zu breiteren demokratischen Werten beitragen. Das Projekt verlagert bewusst den Fokus weg von bekannten Persönlichkeiten oder Aktivisten und rückt stattdessen „gewöhnliche Menschen“ in den Vordergrund, die einfach ihr Leben leben. Es soll die Bedeutung alltäglicher Erfahrungen und die einzigartigen Geschichten derjenigen betonen, die sonst möglicherweise unbeachtet bleiben. Das Projekt legt besonderen Wert auf persönliche Verantwortung und alltäglichen Aktivismus und stellt die Bedeutung der Zivilgesellschaft, Solidarität, Gemeinschaft und des „Do-It-Together“ (DIT)-Prinzips heraus – anstatt Helden zu erfinden oder sich auf prominente Figuren zu stützen. An dieser Stelle eine wichtige Klarstellung: Dieses Projekt ist eine künstlerische Aussage, bei der reale Fakten die Grundlage bilden, aber sie werden vor allem durch die Vision des Künstlers miteinander verbunden und gestaltet.

Wie wurde deine Show vom deutschen Publikum aufgenommen?
Unglaublich positiv. Ich habe so viel Vertrauen und Unterstützung gewonnen, dass es mich zu Tränen rührt. Die Leute kamen, ohne zu wissen, was sie erwarten würden, und die Jungs von NEW AGE DOOM und ich haben alles gegeben, um sicherzustellen, dass niemand enttäuscht wurde. Im Allgemeinen gehe ich immer mit der Einstellung an meine Auftritte, als ob es meine letzte Show wäre, damit es nichts gibt, was ich bereuen könnte. Aber natürlich strebe ich immer nach mehr – einer noch cooleren, noch hochwertigeren Show. Ich arbeite ständig daran. Und ich bin allen zutiefst dankbar – ohne sie hätte das alles keinen Sinn gehabt.

Diana Burkot Pussy Riot

Was möchtest du mit SWEAT AND BLOOD erreichen?
Die Welt verändern (lacht). Im Ernst, es gab eine Zeit, in der ich selbst Politik vermieden habe, aber jetzt ist sie so unvermeidlich, dass man ihr nicht entkommen kann. Es ist unmöglich, sie zu ignorieren – Politik ist alles, ob wir es wollen oder nicht. Ich beneide diejenigen, die in der Illusion einer schönen, glückseligen Welt außerhalb der Zeit und der politischen Realität leben können, so bequem und friedlich. Deshalb strebe ich danach, die Schönheit der Kunst mit politischem Aktivismus zu verbinden.

Während deiner Tour in Deutschland wurdest du von der kanadischen Progressive-Rock-Band NEW AGE DOOM begleitet. Wie kam der Kontakt zustande und was verbindet euch?
Wir haben uns in Vancouver, Kanada, getroffen, als PUSSY RIOT dort für eine Ausstellung und ein Konzert im Rahmen unserer Tour durch Kanada und die Vereinigten Staaten war. Eric hat mich über Instagram kontaktiert und mich eingeladen, ein Konzert mit meinem Soloprojekt zu spielen. Ich hatte ein paar Tage frei, also stimmte ich zu. Wir haben uns getroffen, verstanden uns gut, und jetzt touren wir zusammen, arbeiten zusammen und sind großartige Freunde geworden und geblieben. Es gibt viele talentierte Menschen da draußen, aber wirklich gute und bodenständige, besonders unter Künstlern, sind selten. Ich bin unglaublich dankbar, echte Freunde gefunden zu haben – Menschen, mit denen man arbeiten kann und denen man vertrauen kann. Dafür danke ich sowohl Gott als auch Satan.

Pussy riot new age doom

Die Musik, die du im Rahmen von SWEAT AND BLOOD präsentierst, ist elektronisch und hat wenig gemeinsam mit dem ursprünglichen Punk-Stil von PUSSY RIOT. Welche musikalischen Einflüsse fließen in die Musik ein?
Als ich zu PUSSY RIOT kam, spielte ich Punk- und Post-Punk-Schlagzeug. Mit der Zeit entwickelte ich auch eine Liebe zur elektronischen Musik, sodass dieser Übergang für mich ganz natürlich war. Der Musikstil selbst spielt dabei nicht wirklich eine Rolle; was wichtig ist, ist die Botschaft und die Energie. Als ich jünger war, verbrachte ich auch viel Zeit auf Konzerten, meist bei den angesagten Nu-Metal-Shows der damaligen Zeit. Wenn ich Geld hatte, liebte ich es, mich zu betrinken und Spaß beim Stage Diving zu haben. Die meisten Mädchen hatten Angst zu springen, aber für mich verwandelte sich die Angst schnell in Aufregung – ich liebte es einfach! Manchmal ging ich mit Freunden zu Konzerten als Teil der Szene, andere Male ging ich alleine. So kam es, dass ich eines Tages auf ein Björk-Konzert ging, welches meine Wahrnehmung von Musik komplett veränderte. Zu Hause hörte ich alles: Jazz, Rock, Indie-Elektronik, experimentelle Musik, Pop, Noise. Ich erinnere mich, wie ich Merzbow entdeckte, und es veränderte meine Welt komplett. Dann kamen Arab on Radar, Lightning Bolt und Black Pus – und meine Welt verschob sich erneut. Psycho Folk, Minimal Wave, Post-Punk – ich kümmere mich nicht sehr um Genres, aber ich bin wählerisch. Nicht jedes Album oder jeder Track spricht mich an.

Ich habe viele Erinnerungen und Assoziationen, die mit Künstlern oder Songs verbunden sind. Einer meiner Katzen heißt Ian, nach Ian Curtis von Joy Division, weil ich sie auf der Straße fand, direkt nachdem ich „Control“ im Kino gesehen hatte. Einmal habe ich mich aus Liebeskummer geritzt, während „Man That You Fear“ von Marilyn Manson in Dauerschleife lief. Damals romantisierte die Rockkultur leider oft Selbstzerstörung und Gewalt. Salem ist ein komplett elektronisches Projekt, aber irgendwie fühlt es sich für mich mehr wie Grunge an. Ich genieße Witch House als Genre und Ästhetik wirklich sehr. Kllo ist eine Art Neo-R&B, ebenfalls ein elektronisches Projekt mit sehr sanften, subtilen Vocals. Ich liebe es, ihre Musik zu hören, wenn ich mich ängstlich oder gestresst fühle; es hilft mir wirklich, mich zu entspannen.
Hast du schon von Nouvelle Vague gehört? Sie machen Bossa-Nova-Covers, und das ist unglaublich. Ihre Versionen von „A Forest“ und „In a Manner of Speaking“ sind besonders großartig. Ich liebe auch Old-School-Musik, besonders Trip-Hop, wie Massive Attack. Es ist eines der unglaublichsten Genres, und ich hoffe immer noch, dass es ein Comeback feiert.
Wolves in the Throne Room sind eine großartige melodische Band. Ich habe eine Zeit lang Black-Metal-Schlagzeug gespielt, und das war eine coole Erfahrung. Was Jazz betrifft, bin ich ein riesiger Fan von John Coltrane, Thelonious Monk und Nina Simone. „Wild Is The Wind“ hat mich schon so oft zu Tränen gerührt. „Threnody for the Victims of Hiroshima“ von Penderecki ist ein Meisterwerk. Ich liebe auch Erik Satie – er war ein echter Punk! Er ist dieser brillante Student, der zu viel Genie hat, als dass mittelmäßige Lehrer ihn zu schätzen wüssten. Wenn ich es zusammenfassen müsste: Ich bin der Typ Mensch, der mit 12 Jahren Rekorde im Nicht-Duschen aufgestellt hat, weil ich dachte, das gehört zum Grunge-Ästhetik und zur Rebellion, Kurt Cobain war mein Held (lacht). Ich trage stolz ein Kleid, das ich im Müll gefunden habe, anstatt zerrissene Jeans im Laden zu kaufen. Oder ich bin ein Teenager, völlig verliebt, und küsse meinen Freund zum Soundtrack von Smashing Pumpkins – so unglaublich romantische Musik, genau wie The Cure.

Worum geht es in den Texten?
Auf dem Album „Sweat and Blood“ spiegeln die Lieder das Leben meiner Freunde wider – wie lebendig und erstaunlich sie sind und den Mut, den sie haben, das Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben. Es braucht echten Mut, um frei zu sein. Zum Beispiel handelt das Lied „Audrey“ von einer trans Person, die ihre Identität aufgrund der extremen Einschränkungen der LGBTQ+-Rechte in Russland nicht offen ausleben kann. Das Gesetz von 2022 erweiterte das Verbot sogenannter „gay propaganda“ und machte sogar neutrale Darstellungen von LGBTQ+-Personen in Medien, Kunst und Literatur strafbar. Dieses Gesetz führt zu Geldstrafen, Zensur und sozialer Ausgrenzung. Menschenrechtsorganisationen haben diese Gesetze verurteilt, da sie Diskriminierung fördern und Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen legitimieren. Eine der zentralen Fragen ist, wie es ist, einfach aufgrund der eigenen Identität außerhalb des Gesetzes zu stehen.

Ein auffälliges Merkmal deiner Performances ist die visuelle Komponente. Neben großflächigen Projektionen, die „Wanted“-Plakate politisch verfolgter Personen in Russland zeigen, erscheint auch immer wieder der Name „Egor“. Was kannst du uns über die visuellen Elemente erzählen?
Es gibt Videos von den SWEAT-AND-BLOOD-Performances und Videos von der „Riot Days“-Tour. In „Riot Days“ sind die meisten Videos dokumentarisch, erstellt von Vasily Bogatov und Taisiya Krugovykh, die die klassischen Aktionen von PUSSY RIOT schon früher gefilmt und in Musikvideos verarbeitet haben. Ein bemerkenswerter Teil der Show ist ein achtminütiges Segment, das politischen Gefangenen gewidmet ist. Meine SWEAT-AND-BLOOD-Performances beinhalten wiederum Videos, die ich mit Hilfe von KI erstelle, in Zusammenarbeit mit Anastasia Gvozdeva, die die Animationen gemacht hat, und Sima Piterskaya, die an den 3D-Visuals gearbeitet hat. Sima ist eine großartige Aktivistin und Musikerin. Mein Programm konzentriert sich vor allem auf „gewöhnliche Menschen“, Individuen wie du und ich. Einer von ihnen ist Egor, mein bester Freund. Im Moment kümmert er sich um meine drei Katzen. Seit meinem Umzug ins Ausland habe ich es noch nicht geschafft, sie mitzubringen. Der Prozess ist kompliziert. Meine älteste Katze ist 17 Jahre alt, und ich mache mir Sorgen, dass der lange Flug nach Island, wo ich jetzt lebe, gefolgt von der Quarantäne, zu stressig für sie wäre. Wenn etwas mit ihrer Gesundheit passiert, habe ich vielleicht nicht die finanziellen Mittel, mich um sie zu kümmern. Es ist eine schwierige Situation. Abgesehen davon ist Egor ein unglaublich freundlicher und wunderbarer Mensch, und ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen von ihm und seiner Geschichte erfahren. Er hat Russland wegen der Mobilisierung verlassen – er fand es inakzeptabel, mit einer Waffe in ein fremdes Land einzumarschieren. Er ist ein wahrer Pazifist, und in vielerlei Hinsicht ist er selbst wie eine Katze (lacht). Er ist auch ein unabhängiger Booker, der unzählige Musiker nach Russland gebracht hat, oft mit großem persönlichen und finanziellen Risiko, einfach weil er ihre Musik live erleben wollte und diese Erfahrung mit anderen teilen wollte. Es gibt viele Arten, Musik zu lieben. Man muss kein Musiker sein; man kann ein Booker sein und unabhängige Künstler unterstützen. Egor hat mich viele Male eingeladen, aufzutreten, was mir in entscheidenden Momenten meiner musikalischen Reise wirklich geholfen und mich unterstützt hat. Vielleicht könnte seine Geschichte andere inspirieren. Man muss kein Vollzeit-Aktivist sein, um etwas Gutes zu tun. Es gibt so viele verschiedene Wege, einen Unterschied zu machen.

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Welche Schwierigkeiten oder Herausforderungen hast du seit dem Start von SWEAT AND BLOOD erlebt?
Die größte Herausforderung war, alles von Grund auf neu aufzubauen. Die Zusammenarbeit mit neuen Leuten in einem fremden Land, die Kraft zu finden, aus meiner Komfortzone herauszutreten und weiter zu wachsen und mich weiterzuentwickeln – das war die Reise. Technische Schwierigkeiten sind ein ständiges Thema, aber ich lerne immer weiter dazu, um meine Performances qualitativ hochwertiger und interessanter zu gestalten, auch ohne große Budgets. Das illegale Herunterladen von Musikproduktions-Software kann riskant sein, und Equipment kostet Geld. Zum Beispiel kann ich im Moment nicht einmal Gesang für das Album aufnehmen, einfach weil ich mir kein anständiges Studio-Mikrofon leisten kann, was mich ehrlich gesagt ein bisschen frustriert. SWEAT AND BLOOD bin ich und die Menschen, die bereit sind, mit mir zusammenzuarbeiten, aber letztlich liegt die Verantwortung auf meinen Schultern. Es ist hart, weil das, was ich am meisten liebe, im Kern das Schreiben von Songs und das Teilen dieser mit anderen ist. Was ich ernsthaft sagen kann, ist, dass man das Leben eines Künstlers nicht romantisieren sollte. Die Realität wird dich definitiv in den Hintern beißen (lacht).

Wird es einen Film zu SWEAT AND BLOOD geben?
Ich würde gerne ein Video produzieren, aber ich gebe mich keiner Illusion hin. Kennst du das russische Sprichwort: „Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von deinen Plänen“?

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In welchen anderen musikalischen oder politischen Projekten und Aktionen bist du noch engagiert?
Im Moment konzentriere ich mich wirklich darauf, zumindest eine Sache gut zu machen. Wie du bemerkt hast, hat das SWEAT-AND-BLOOD-Projekt eine ziemlich komplexe Form und Struktur, und es ist nicht einfach, die Zeit und Energie zu finden, es richtig umzusetzen. Aber es gibt noch ein anderes Projekt, an dem ich arbeite – eine Popera über einen lila Werwolf. Stell dir das fast wie ein Disney-Musical mit klassischen Instrumenten vor, aber mit einem sehr queeren Twist. Wir müssen noch 2-3 Tracks fertigstellen, um das Projekt abzuschließen. Die Hauptfigur ist mein guter Freund Michael, eine unglaublich charismatische Person, die auf so organische Weise die Aufmerksamkeit aller auf sich zieht. Er ist einer dieser talentierten Menschen, die es wirklich verdienen, alles zu bekommen, der aber noch nicht den Erfolg hatte, den er eigentlich verdient. Erfolg ist oft der Fehler der Überlebenden. Ich hoffe wirklich, dass alle seine Träume als Künstler in Erfüllung gehen.

Gibt es besondere Momente oder Erfolge in deinem Leben als Aktivist, auf die du besonders stolz bist?
Ja, ich bin nicht verrückt geworden, ich habe überlebt, ohne mich selbst zu verlieren, und ich glaube immer noch an die Menschlichkeit. Und ich bin auch nicht völlig abgestumpft.

Kannst du konkrete Beispiele nennen, bei denen deine Projekte einen spürbaren Einfluss hatten?
Es liegt nicht an mir, das zu beantworten – das müsste man andere Leute fragen.

Wie kann sich die Musikcommunity engagieren? Was brauchst du – freiwillige Helfer, Sach- oder Geldspenden, Aufmerksamkeit?
Wenn wir von mir sprechen, kommt bitte einfach zu den Konzerten. Und wenn ich das Glück habe, ein Album zu veröffentlichen, hört es euch an. Musik und Kunst sind mein Lebensweg; ich weiß nicht, wie man etwas anderes macht. Ich will es auch nicht und ich kann es nicht. Es ist mir wichtig, das mit anderen zu teilen.Und es ist auch mein einziger Job (lacht).

Die letzten Worte gehören dir: Was möchtest du den Menschen da draußen mit auf den Weg geben?
Das Schwierigste ist, an sich selbst zu arbeiten – ein Humanist zu sein, aber kein Opfer. Kümmere dich um dich selbst, deine geistige Gesundheit und strebe nach einer besseren Position im Leben, aber nicht auf Kosten anderer. Und scheue dich nicht, den Mistkerlen die Stirn zu bieten – Karma braucht Hilfe.


Alle weiteren Teile dieser Serie findet ihr hier:

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Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
Zur besseren Lesbarkeit wurden Smilies ersetzt.

3 Kommentare zu “Pussy Riot

  1. Was für eine Fleißarbeit! Respekt! Superinteressant; hat was zu sagen, zu geben und eine Biografie, die das nachhallend ehrlich macht. Muss mich damit mal ein wenig auseinandersetzen…

    1. Vielen Dank, so ein Feedback freut mich natürlich sehr. Und ja, eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den entsprechenden Themenbereichen ist superspannend, da war für mich unglaublich viel Neues und Wissenswertes dabei ;-)

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