Review Jim Gilmour – Great Escape (Re-Release)

Normalerweise verdient sich Jim Gilmour als Keyboarder und Backgroundsänger bei Saga seine Brötchen, wie mittlerweile beinahe alle Saga-Mitstreiter hat er sich dabei allerdings auch auf Solopfaden bewegt. 1996 erschien sein Solodebüt „Instrumental Encounters“, ein Album voller symphonisch angehauchter Instrumentalmusik, auf dem Gilmour sich vor allem von seiner klassisch-orchestralen Seite zeigte, d.h. es gab viel Piano und Streicher, dazu teils monumentale Arrangements. Mit „Great Escape“ präsentiert sich Gilmour einmal ungewohnt anders: Sein zweites, 2005 erstmals erschienenes und dieser Tage wiederveröffentlichtes Solowerk konzentriert sich vor allem auf progressiveres, rockigeres Material, dazu gibt es einige Improvisationspassagen sowie New Age-/Fusion-Experimente. Außerdem übernimmt er hier auch den Gesang – wobei anzumerken ist, dass nur die Hälfte der zehn Songs tatsächlich mit Gesang aufwartet.

Die Abgrenzung vom typischen Saga-Sound ist sowohl Sänger Michael Sadler als auch Gitarrist Ian Crichton und Keyboarder Jim Gilmour bei ihren Soloarbeiten immer gut gelungen, trotzdem konnte man unmissverständlich erkennen und heraushören, dass jeder der Herren seinen eigenen, unvergleichlichen Teil zum Saga-Soundkosmos beigetragen hat.

„Great Escape“ zeigt aber meiner Meinung nach am ehesten auf, wo Saga heute in der Progressive Rock-Szene stehen könnten, wenn sie sich mal etwas mehr von ihren festgefahrenen (wenn auch genialen) Songstrukturen lösen würden: Rockig-groovige Tracks wie der Opener „No Sign“ oder das kompakt-flotte „Algonquin“ (inklusive Selbstzitat vom Solodebüt) beweisen, dass Jim Gilmour weiß, wie rockiger Prog zu klingen hat – und dass er zudem den Mut und die Fähigkeiten hat, Genre-Helden wie Jordan Rudess von Dream Theater nachzueifern. So ausgiebige Soloabfahrten wie in den oben genannten Tracks und so treibende Gitarren finden wir eben bei Saga nur selten. Ein Beweis dafür, dass Jim beim Songwriting vielleicht durchaus mehr involviert werden sollte. „Lost Along The Way“ ist ein wunderschöner Midtempo-Song mit leichtem 80ies-Pianosound, Synthibass und einem wunderschönen Refrain, den Jim zusammen mit Gastsängerin Corrina Tofani singt. Mit „The Northwind“ und „Wasteland“ finden sich noch zwei weitere Balladen, die mit großartigen Lyrics und absolut charakteristischem Gesang aufwarten können. Jims Stimme ist zwar keineswegs technisch brilliant oder besonders ausdrucksstark, aber dafür unverwechselbar. Diese Songs berühren, lassen den Hörer inne halten. Das ist Musik, die direkt ins Herz geht.

Schade ist, dass diese tollen Tracks in ihrer Stimmung durch die daneben platzierten, eher experimentellen Nummern etwas kaputtgemacht werden: Nicht, dass das überdreht technisch-moderne „Radiant Lake“ oder die Piano-Improvisation „Carden Isle“ wirklich schlecht wären, die Stimmung, die das Album aber bis dahin aufgebaut hat, wird von ihnen zerstört. Insbesondere „Radiant Lake“ passt mit seinem komischen, absolut undefinierbaren Rhythmusmachern so überhaupt nicht aufs Album. Hier hat es Jim Gilmour mit seinem nicht zu versteckenden Hang zu 80er-Arrangements und Sounds definitiv übertrieben. Es sollte vermutlich modern, knackig und exquisit klingen, stattdessen nervt es nur. Die Improvisation finde ich mitten im Album auch nicht gerade glücklich platziert.

Das größte Problem an „Great Escape“ dürfte sein, dass es dem typischen Saga-Fan nicht soviel geben wird. Zu verschachtelt sind die Arrangements, zu abgedreht die Sounds (die teilweise auch an der Kitschgrenze kratzen) – 80ies und Moderne geben sich hier die Hand und treffen auf dem Weg auch noch klassisches Piano: Da werden einige Hörer die Geduld verlieren, zumal sich Gilmour durchaus gern mit Soloorgien aufhält. Diese sind jedoch immer gelungen und auch bei Saga in diesem Maße nicht vorhanden, also empfinde ich das keineswegs als negativ. Mit „Canoe Do It?“ gibt es kurz vor Ende nochmal einen Bombastrocker, während mit „Last Portage“ ein wunderschöner Symphonic Prog-Song das Album abschließt, der leider nicht wie erwartet ein 13-minütiger Longtrack ist, sondern nach sieben Minuten viel zu schnell endet und dann nach einer Pause noch um eine weitere versteckte Piano-Improvisation ergänzt wird. Besonders hervorzuheben sind hier die genialen Chorarrangements und die traumhaften instrumentalen Motive.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Jim Gilmours zweites Soloalbum zeigt eindrucksvoll auf, wozu der Saga-Keyboarder in der Lage wäre, wenn man ihn nur ließe. Das dabei eher eine Ansammlung abwechslungsreicher und experimentierfreudiger Tracks als das perfekte Durchhör-Album rausgekommen ist, sehe ich nicht als Weltuntergang, wenn es auch den Genuss etwas schmälert. Insgesamt also gelungen und meiner Ansicht nach ein Pflichtkauf für alle Saga-Sammler (nicht Fans!), die auch mal gern progressivere Musik hören. Mit der Tatsache, dass auf dem Album kein echter Bass zu hören ist, muss man dabei ebenso klarkommen wie mit dem Fakt, dass die Produktion etwas klinisch ausgefallen ist und das Artwork (der Neuauflage) leider wenig ansprechend daher kommt. Erwähnenswert ist, dass der zweite Saga-Drummer Christian Simpson auf drei Tracks das Schlagzeug eingespielt hat, bevor er sich aufgrund einer Nervenkrankheit von Saga trennen musste und auch ganz aus dem Musikbusiness zurückgetreten ist. Anspieltipps: „Last Portage“, „Lost Along The Way“ und „The Northwind“. Für progrockigeres Material höre man “No Sign”, “Algonquin” und “Canoe Do It?”.

Wertung: 7.5 / 10

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