Review Loathe – I Let It In And It Took Everything

[Progressive Metal / Metalcore / Post-Rock] Wer vor drei Jahren, als LOATHE ihr Debüt „The Cold Sun“ veröffentlichten, dachte, dass es sich dabei nur um eine weitere Metalcore-Kapelle im Dunstkreis von Sharptone Records handeln würde, wurde Lügen gestraft. Denn die fünf Briten in eine bestimmte Ecke zu drängen, ist schlichtweg unmöglich. Zu vielseitig sind die Einflüsse aus Progressive Metal, Post-Rock, Metalcore, Shoegaze und vielem mehr. Nicht umsonst sprach man hinter vorgehaltener Hand schon von den europäischen Code Orange. Nun steht der Nachfolger „I Let It In And It Took Everything“ in den Läden, mit dem LOATHE selbstverständlich ihren Erfolg weiter ausbauen möchten.

Und auch das neueste Full-Length erschlägt einen umgehend mit einer Vielzahl an Stilmitteln. Was anfangs überladen und nach zu viel des Guten klingt, entwickelt sich nach mehrmaligem Hören zu einer packenden Mixtur moderner Spielweisen des Metals. So ist bei „I Let It In And It Took Everything“ vor allem eine Tugend von Nöten: Geduld. Wer diese mitbringt, wird wahre Freude am neuesten Schaffen der Engländer haben.

Doch nun erst Mal von vorne. Die Platte beginnt mit dem atmosphärischen Intro „Theme“, das den Hörer noch in Sicherheit wiegt und langsam an die anstehende Verrücktheit heranführt. Denn bereits mit dem ersten vollwertigen Song „Aggressive Evolution“ lassen LOATHE ihre volle Aggression auf den Hörer los. Auf so tief wie nur möglich gestimmten Gitarren knallen die Liverpooler einem die ersten Riffs um die Ohren, die mit kreischenden Dissonanzen angereichert werden und großes Unheil erahnen lassen. Unterlegt mit elektronischen Elementen und tiefen Bässen wird die düstere Grundstimmung fortgesetzt, bevor mit dem Refrain ein krasser Bruch die natürliche Entwicklung des Songs stoppt: Über die post-rockigen Gitarren legt sich eine herzerwärmende Gesangsspur von Gitarrist und Clean-Sänger Erik Bickerstaffe, die im völligen Kontrast zum restlichen Song steht.

So beweist dieser erste Track zwar umgehend die Vielseitigkeit der Band, kann in seinem Schema jedoch höchstens noch für die Single „New Faces In The Dark“ angewandt werden. Denn im Großen und Ganzen heißt es schlichtweg: Erwarte das Unerwartete. Auf „Screaming“ trifft astreiner Post-Rock auf einen doomigen Breakdown und das eher vom Alternative Rock angehauchte „Two-Way Mirror“ könnte man glatt im Radio laufen lassen. Dass das chaotische „Gored“ dabei als gewöhnlichster Track durchgeht, ist bezeichnend für LOATHE. Denn wenn man meint, schon alles gehört zu haben, begegnet einem auf „Heavy Hangs The Head That Falls With The Weight Of A Thousand Thoughts“ ein astreiner Blackgaze-Part, der so auch aus der Feder von Deafheaven stammen könnte.

Nach ganzen 50 Minuten schließt die Band ihr zweites vollwertigen Werk mit dem Titeltrack. Man fühlt sich erschlagen, überfordert und vielleicht auch ein bisschen verwirrt. Doch bereits beim zweiten Mal erkennt man, dass LOATHE trotz aller scheinbarer Willkür hier nichts dem Zufall überlassen. Die weiteren Runden fallen dann bereits deutlich einfacher aus: Man kann sich schon mal darauf einstellen, was einen erwartet und sich mehr auf die Verspieltheit der Instrumente und das Zusammenspiel der verschiedenen Einflüsse konzentrieren. Und wer sich auf diese weiteren Durchläufe einlässt, wird auch belohnt: Die Zahnräder greifen ineinander, die melancholischen Parts bilden mit der konträren chaotischen Instrumentierung ein Soundgefüge, das Hass und Liebe, Schönheit und Ekel, Aggression und Gelassenheit miteinander verbindet und verdeutlicht, dass das eine ohne das andere nicht existieren kann. Nicht im Leben und auch nicht in der Musik von LOATHE.

So wird dem Hörer hier definitiv schwere Kost vorgesetzt, die musikalische Puristen nicht verdauen können. Wer „I Let It In And It Took Everything“ allerdings eine faire Chance gibt, wird große Freude an einem der vielseitigsten und überraschendsten modernen Metal-Album der letzten Jahre haben. Ebenso sollte klar sein, dass der angehängte Track nur einen Bruchteil dessen verkörpert, was die Briten in ihrem Repertoir haben. Daher sollten sich neugierige Hörer definitiv an das gesamte Album heranwagen. Denn LOATHE sind hässlich, schön, wild und sanft zugleich und das macht sie einzigartig.

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Wertung: 9 / 10

Publiziert am von Silas Dietrich

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