Review John Wetton – Raised In Captivity

  • Label: Frontiers
  • Veröffentlicht: 2011
  • Spielart: Rock

Es gibt Alben, das hat wohl jeder schon einmal erlebt, die sind schwierig. Das kann daran liegen, dass die Platten so kompromisslos drauflos holzen, dass man kaum zum Atem holen kommt. Das kann auch daran liegen, dass man als Hörer in ausufernden Longtracks schnell den Faden verliert. Oder daran, dass die Bands selbst vor lauter Gefrickel den Faden verlieren. Oder daran, dass es überhaupt keinen Faden gibt. Nur: JOHN WETTON hat kein solches Album eingespielt.

Bei „Raised In Captivity“ liegt der Fall anders. Der in den 70ern im Rückblick offenbar missverstandene King Crimson-Sänger und -Bassist, der mit Asia Welterfolge feierte, bietet auf sehr spezielle Weise schwere Kost. Dadurch, dass er an sich rein gar nichts überhaupt verdauliches liefert. Was, wenn man irgendwann mit „Heat of the Moment“ aufgehört hat, seine Musik zu verfolgen, etwas überraschend kommt. Und dann, wenn man sich Alben wie „Red“, „Larks‘ Tongues In Aspic“ oder „Starless And Bible Black“ nochmal durchhört, irgendwie auch nicht.
„Raised In Captivity“ ist ein riesen Haufen Schmalz und Pathos. Mit diversen Gastmusiker aus der alten Prog Rock/Pop-Garde (und Anneke Van Giersbergen) führt Mr. Wetton durch Songs, von welchen man nicht mehr behaupten kann, sie wurden am Kitsch kratzen. Nein, „Steffi’s Ring“ oder „The Devil At The Opera House“ sind weichgespült, dass man in der Persil-Chefetage erbleichen würde und „We Stay Together“ zieht mit dem Refrain „We Stay Together – Let’s spend tonight together“ das kompromisslos durch, an was Bon Jovi trotz Songs wie „Always“ oder „I’ll Be There For You“ nicht mal zu denken wagte.
Und dennoch, so wie diese Nummern unbestreitbar Charme haben, muss man auch JOHN WETTON attestieren: Der Mann hat eine Nase für den erwähnten Schmalz und Pathos. Seinen Höhepunkt findet dies wohl in „Goodbye Elsinore“, das, als leicht nach schottischem Folk riechende Ballade (fast jeder Song auf „Raised In Captivity“ ist eine Ballade), eine großartige Hymne darstellt, bei der, wenn normalerweise Feuerzeuge im Publikum entzündet werden, fast schon Flammenwerfer geschwenkt werden müssten, um der Stimmung gerecht zu werden.

Wenn man an dem Punkt angekommen ist, diesen Ansatz nachvollziehen zu können, schlägt auch das restliche Album in die selbe Kerbe: Jenseits von Gut und Böse was Kitsch und Klischee angeht und trotzdem überzeugend stilvoll. Da stören auch die fiesen 80er Disco-Synthies in „The Last Night Of My Life“ nicht mehr.
So, wie man sich in Free Jazz-, Brutal Death- oder Avantgarde Black Metal-Alben erst reinhören muss, muss man auch bei JOHN WETTONs neuestem Streich erst einen Zugang finden. Man kann „Raised In Captivity“ natürlich als Weichei-Album abtun. Aber: Es ist verdammt gut gemacht. Und wenn man sich die alten King Crimson-Meilensteine dann nochmal durchhört merkt man, dass dieses hymnische, ohrenschmeichelnde Element auch damals immer vorhanden war. Dass JOHN WETTON sein Faible solo exzessiv auflebt, ist also nur plausibel. Wenn man selbst auch ein Faible dafür hat, liegt man mit „Raised In Captivity“ goldrichtig. Wenn nicht, lässt man tunlichst die Finger davon.

Wertung: 8 / 10

Publiziert am von Marius Mutz

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