Review Pure Reason Revolution – The Dark Third

“Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, so fern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, so fern er gedacht wird. Man kann also zwar richtig sagen: daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen.“

Dieses Zitat aus Immanuel Kants Schrift „Die Kritik der reinen Vernunft“ erschien mir passend, um die Besprechung des Debütalbums der Londoner Band PURE REASON REVOLUTION einzuleiten. Ihr Erstling hört auf den Namen „The Dark Third“ und erscheint nun erstmalig in Deutschland, nachdem er 2006 schon in England veröffentlicht worden ist.„The Dark Third“ hat dabei weder etwas mit Mathematik, noch mit sozialpolitischen Betrachtungen zu tun – vielmehr hat die Band ihr Debüt zum Anlass genommen, um einmal über die Zeit unseres Leben zu nachzudenken, in der wir nicht aktiv sind, aber dennoch Erlebnisse und Erfahrungen in Form von Träumen sammeln. Sänger Jon Courtney fast die Faszination dieses Themas kompakt zusammen: „Sind Wachheit und Schlaf wirklich so verschieden? Wachen und Träumen sind Produkte ein und desselben Gehirns und beeinflussen sich wechselseitig. Vielleicht ist Wachbewusstsein ja nur eine andere Form des Träumens.“ Vielleicht genau der richtige Stoff für eine New Artrock-Band?

Diese Gedanken, diese Stimmungen, diese Endlosigkeit vermitteln auch die neun Songs, die uns die Band während der gut 60 Minuten Spielzeit vorträgt. Dabei gelingt es PURE REASON REVOLUTION bereits mit dem instrumentalen Operner „Aeropause“, die Aufmerksamkeit des Hörers völlig auf sich zu ziehen. Engelschöre treffen hier auf Slide-Gitarren, verhaltenen Bass und schleppendes Schlagzeug, Soundcollagen und Samples sorgen für die nötige Tiefe und Atmosphäre. Wie es sich für eine New Artrock-Band gehört, gilt hier: Pink Floyd sind nicht weit. Doch damit wäre der Band unrecht getan, erinnern die anderen Stücke der Platte zwar hin und wieder mal an Roger Waters, David Gilmour & Co., sind jedoch weitaus nicht so verspielt und psychedelisch wie das frühe Pink Floyd-Material und haben zudem eine klare Alternative Rock-Schlagseite. Das bedeutet aber nicht, dass wir es hier mit Schrammelrock auf hohem Niveau zu tun haben – ein Blick auf die Besetzungsliste der Band verrät, dass Keyboards, Programming und Soundsamples einen großen Teil des Konzepts ausmachen und stark den Sound der Band einfärben. Der englische Indie-Rock hat trotzdem seine Spuren hinterlassen, was aber keineswegs negativ gemeint ist.

Fünf Minuten lang bereitet uns also „Aeropause“ mental auf unsere körperlose Reise ins eigene Ich vor, lässt uns zu uns selbst finden und beruhigt uns. „The Dark Third“ ist ein Album, das man am besten nur bei Kerzenlicht ins Bett gekuschelt unter dem Kopfhörer hört. Dann erst kommt man in die richtige Stimmung, um die Tragweite, Größe, Erhabenheit und Schönheit der Kompositionen völlig zu erfassen. Nach fünf Minuten leiten uns ein sanftes Piano, Windgeräusche und eine verhaltene Gitarre zu „Goshen’s Remains“ und dem ersten Gesangseinsatz von Chloe Alper, die auch den Bass bedient. Das klingt alles etwas weltfremd, entfernt, sophisticated; aber dennoch ist es sehr melodisch und catchy und nicht schwer zugänglich. Spätestens wenn die englischen Gitarren den in höchstem Maße einprägsamen Refrain begleiten, spürt man die Kraft, Wärme und Behaglichkeit, die in dieser Musik steckt. Nach drei Minuten begrüßen uns schöne Violinen und ein Drumbeat aus der Dose, und das alles passt so wunderbar zusammen. Dann der erste Auftritt von Sänger Jon Courtney, der wenig später wieder von Chloe Alper unterstützt wird. Hier lernen wir schon einen weiteren wichtigen Eckpfeiler der Engländer kennen: Der wunderbare polyphone Chorgesang, der ein bisschen Seventies-Flair atmet, aber dennoch mit dem musikalischen Unterbau genauso gut einen Science-Fiction-Film untermalen könnte.

Man kann sich richtig fallen lassen in diesen Melodien, dieser Stimmung. Analoge Synthies und irgendwie zurückhaltender, aber absolut eindringlicher Gesang eröffnen den dritten Titel „Apprentice Of The Universe“, ohne das wir einen Übergang gespürt hätten. Es ist wie ein Traum – man versinkt immer tiefer in die Welt von PURE REASON REVOLUTION. Die Bridge dieses Songs schreiben andere Bands vermutlich einmal in ihrer ganzen Karriere – hier gelingt es schon im dritten Song. Spätestens mit dem ersten, zwölfminütigen Longtrack „The Bright Ambassadors Of Morning“, tauchen wir ganz tief in diesem Traum, in unser eigenes Ich, ein und wollen nicht mehr loslassen. Es fällt schwer, Wachen und Träumen noch zu unterscheiden, zu hypnotisierend und einlullend ist die Musik, ohne dahinzudümpeln. Hier passiert jede Menge, und das auf so stilvolle Art und Weise, wie man es nur selten zu hören bekommt. Die Band lässt sich Zeit, ihre Sounds zu entwickeln, die erwünschte Wirkung zu entfalten – und Chloe Alper singt mehr den je wie ein Engel. Wenig später muss man mehr als nur einmal an die Trip-Hop-Kollegen von Archive und ihren Übersong „Again“ denken, allerdings brauchen sich PURE REASON REVOLUTION mit diesem Longtrack nicht dahinter zu verstecken. Spuren von Porcupine Tree finden sich freilich gelegentlich auch, aber hier geht man doch analoger, natürlicher, purer zu Werke. Nach gut vier Minuten singt Jon Courtney ein herzzerreißendes „a million bright ambassadors of morning“ in einem genialen Vocal-Arrangement und zollt damit wohl Pink Floyd Tribut, die in ihrem Song „Echoes“ diese Textzeile auch untergebracht hatten, wenn auch mit anderer Melodie. Zwei Minuten später befinden wir uns wieder mitten im Atmo-Trip-Hop-New-Artrock mit wabernden Synthies, Space-Geräuschen und verklärten Gitarren. Zum Abschluss gibt es erstmals so richtig schön aggressive Gitarrenriffs zu hören; eine Passage, die man gar nicht laut genug hören kann. Und dann, oh Wunder, der Refrain und die Engel kommen zurück – und 12 Minuten sind wie im Flüge vergangen!

Wir werden weitergebeamt. In die Welt von Nimos & Tambos, einem Song auf Radiolänge, der abermals mit genialsten Gesangsarrangements besticht (schlicht der absolute Wahnsinn!) und im Refrain zögerlich, aber doch mit sanftem Nachdruck seine ganze Energie entfaltet. Fantastisch! So macht man heute tolle, mitreißende Rockmusik, die sich keinerlei Klischees bedient. Track 6 ist unterteilt in die Parts „I: Voices In Winter“ und „II: In The Realms Of The Divine“ und startet mit einfachem Schlagzeug und Slidegitarre und einer Gesangsmelodie, die mich leicht an einen Song von Kate Bush erinnert, mir will allerdings der Songtitel nun partout nicht einfallen. Allgemein fällt spätestens hier auf: Die Band setzt ihre Instrumente enorm effektiv ein, viel gespielt wird eigentlich gar nicht, Komplexes erst recht nicht. Meist reich ein simples, aber effektives Schlagzeug, dazu gesellen sich sphärische Gitarrenlicks oder Slidegitarren, ein monotoner, aber ganz und gar nicht lebloser Bass. Den Rest machen die beiden Gesangsstimmen und die Sphärensounds. Der anfängliche Eindruck, der Gesang der beiden sei seltsam dumpf oder schwach, vielleicht sogar kraftlos, löst sich nach spätestens zwei Durchläufen in Wohlgefallen auf. Im zweiten Part „In The Realms Of The Divine“ kommen diese Violinenarrangements wieder, die hier irgendwie das Ende der Welt anzudeuten scheinen – und wenig später bekommt man ein weiteres furioses Finale geboten, dass Bands wie Kansas in Nichts nachsteht. PURE REASON REVOLUTION wissen, wie man große Spannungsbögen schreibt!

Und so geht es dann auch weiter, die Zeit vergeht wie im Fluge, der Traum ist zu schön um wahr zu sein. „Bullitts Dominae“ ist der Song, den Porcupine Tree schon seit zehn Jahren versuchen zu schreiben und den viele Postrock-Bands niemals schreiben werden. Auch hier gibt’s wieder ein melodramatisches Ende mit apokalyptischen Vocals. Mittlerweile kann man durchaus bestimmte Songwriting-Muster erkennen, doch was tut dies zur Sache, wenn man von der puren Genialität der Musik überwältigt ist, die Songs immer wieder hören muss und vor allem schon nach zwei Durchgängen der festen Überzeugung ist, dass jeder Song so, und genau so, klingen muss. Track 8 teilt sich wiederum in zwei Teile, „I: Arrival“ und „II: The Intention Craft“ auf und ist mein heimlicher Anspieltipp, wenn man unbedingt so etwas sucht. Diese 9 Minuten machen ziemlich gut klar, worum es hier geht, wenn sie auch nicht zu den abwechslungsreichsten gehören. Archive und Coheed & Cambria lassen grüßen. Genial ist hier vor allem, wie man mit Ruhepausen arbeitet, ebenso ist das Piano und die kraftvolle Gitarrenwand Balsam für die Seele. Dann sind wir auch schon beim letzten Track angekommen. Die Sonne scheint in unser Blickfeld zu kommen, wir scheinen uns im Traum fortzubewegen, zurück dorthin, von wo wir alle kommen. In den Weltraum. Unendliche Weiten. Ein genialer Spannungsaufbau, genialer Gesang, tolle Action an den Instrumenten. Und dann endet alles im Nichts. Wir sind fünf Minuten in der Leere. Kein Ton. Nichts. Aber wir können auch nicht aufwachen. Wurden uns alle diese schönen Töne, Bilder und Erlebnisse nur vorgespielt, womöglich von einer höheren Macht, die mit unserem Träumen und Wachen jongliert? Doch dann wachen wir zart auf. Wir sind zurück im Hier und Jetzt, fühlen uns seltsam erholt, voller Kraft und Tatendrang.

In vielerlei Hinsicht hat mich „The Dark Third“ beeindruckt: Es schafft den Spagat zwischen Anspruch, Atmosphäre und einprägsamen Melodien, schlägt eine Brücke von den Seventies bis in die ferne Zukunft und tritt dabei in allerlei musikalische Fußspuren, ohne zu vergessen, die eigenen Brotkrümel für die nächsten Bands zu hinterlassen. Das Debüt von PURE REASON REVOLUTION ist nichts anderes als perfektes Kopfkino und ein Hochgenuss für die Ohren, der mich in seiner Klangbreite und Ausdruckskraft, aber auch in seiner unheimlichen Faszination an Filme wie Stanley Kubricks „2001 – Odysee im Weltraum“ denken lässt. Solche Alben gibt es heute nur noch selten. Ein perfektes, rundes Meisterwerk! Und nicht vergessen: Ein Debüt!

Lasst mich auch mit Kant enden:
„Überdem, wenn man über den Kreis der Erfahrung hinaus ist, so ist man sicher, durch Erfahrung nicht widerlegt zu werden.“

Wertung: 10 / 10

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