Review Amplifier – The Octopus

Für das dritte Studioalbum nahm das britische Trio AMPLIFIER seine Vermarktung selbst in die Hand und gründete das hauseigene Label Ampcorp. Produktion und Mix übernahm Sänger/Gitarrist Sel Balamir folgerichtig höchstpersönlich. Ursprünglich wurden 2008 zwei Alben angekündigt, die knapp drei Jahre später als massives Doppelalbum unter dem Namen „The Octopus“ erschienen sind. Mit seinen rund 120 Minuten Laufzeit ist das achtarmige Schwergewicht zwischen Progressive, Art und Space Rock natürlich nicht immer leicht zu erfassen. Dafür lässt das Meisterwerk einen nicht mehr aus seinen Fängen, wenn sich einem die komplexe und virtuose Bandbreite erst einmal erschlossen hat.

Eröffnet wird die erste CD von einem instrumentalen Intro, das gemäß seinem Titel „The Runner“ Schrittgeräusche mit spacigen Ambient-Sounds verbindet, die gegen Ende in eine hektische Noise-Klangcollage münden. Im ersten wirklichen Titel „Minion’s Song“ dominieren eingangs das Klavier und Balamirs wehmütiger Gesang. Obwohl ein Refrain quasi nicht vorhanden ist, mausert sich dieser untypische Progressive-Song zu einem Ohrwurm, dessen einleitender Story man nur zu gerne lauscht. Beim im hinteren Teil einsetzenden Chor entsteht der erste Gänsehautmoment, bevor die Gitarre sich in einem wahnwitzigen Rausch in den Gehörgang ergießt.

Was in den ersten zehn Minuten von „The Octopus“ abgeliefert wird, ist bereits intensiver und gewaltiger als es manch andere Band auf voller Albumlänge schafft. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass es ab jetzt nur noch bergab gehen kann – aber weit gefehlt. AMPLIFIER schaffen es mit diversen Einwürfen ihr spezielles Rock-Universum am Leben zu erhalten und sogar zu verdichten. Seien es orientalisch anmutende Melodien bei „Interglacial Spell“, Akustikgitarren und Klavier im vergleichsweise seichten „White Horses At Sea/Utopian Daydream“ oder das locker-flockige und experimentelle Psychedelic-Jazz-Rock-Stück „Trading Dark Matter On The Stock Exchange“.

Die Eröffnung der zweiten Scheibe knüpft mit „The Sick Rose“ an den ersten Teil an, beschwört aber mit der mantra-artig vorgetragenen Textzeile „Does Thy Life Destroy?“ ein düsteres und apokalyptisches Bild. Insgesamt gehen AMPLIFIER in den folgenden Titeln nicht weniger ausladend, aber deutlich rockiger und geradliniger zu Werke. „Interstellar“ (samt einleitender Spieluhrmelodie) setzt auf ein funkiges Riff, „Fall Of The Empire“ spielt mit verzerrtem Gesang und viel Groove, während „Oscar Night/Embryo“ sehnsüchtig mit Elementen aus Country- und Singer/Songwriter-Kunst liebäugelt. Gesanglich lässt Sel Balamir wenig Wünsche offen, wechselt er doch ohne Mühen zwischen laut und leise, kraftvoll und zerbrechlich, tiefen und hohen Tönen hin und her – überzeugt aber mit jedem Stil.

„The Octopus“ ist ein großes, mächtiges und mit vielerlei Facetten versehenes Meisterwerk zwischen Progressive und Space Rock geworden. AMPLIFIER haben nicht nur mit der Selbstvermarktung einen künstlerisch wichtigen Schritt gewählt, sondern sich musikalisch ein überlebensgroßes Denkmal gesetzt. Alle positiven Merkmale und Stärken der Vorgänger haben sie hier gebündelt und schlussendlich ausgebaut. Natürlich müssen die zwei Stunden voller Ideen und Wendungen erarbeitet werden und somit ist „The Octopus“ sicher nicht für jeden Hörer uneingeschränkt zu empfehlen. Wer sich aber auf das achtarmige Ungetüm einlassen kann, der wird von AMPLIFIER mit erstklassigen Kompositionen beschenkt, die immer wieder Neues entdecken lassen und gedanklich auf einen Trip in weit entfernte Galaxien mitnehmen.

Wertung: 10 / 10

Publiziert am von Christian Denner

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