Interview mit Alejandro Arce von Mar De Grises

Chile ist nicht gerade das Mekka des Metal, und doch gibt es auch dort einige musikalische Perlen – darunter die experimentierfreudigen Doomer von MAR DE GRISES, die mit „Draining the Waterheart“ zuletzt ein sehr starkes zweites Album veröffentlichten. Schlagzeuger Alejandro Arce stand uns recht ausführlich Rede und Antwort und plauderte über die chilenische Metalszene, geographische Begebenheiten und chaotische Emotionen.

English Original…

Hy, Alejandro! Vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Interview nimmst. Como estas?
Danke dir. Mir geht’s gut. Cómo estás tú?

Hier in Europa seid ihr noch nicht soo bekannt. Warum stellst du uns dich und deine Band nicht kurz vor?
Die Geschichte von Mar de Grises begann im Jahre 2000, um die natürlichen Bedürfnisse nach Erschaffung und Gefühlsmitteilung von fünf jungen Kerlen, die zufällig Musiker mit ähnlichen musikalischen Vorlieben und ähnlichen Visionen im Leben waren, zu erfüllen. Musik war und ist immernoch das Medium; sie live zu spielen oder aufzunehen ist für uns ein Ritual, das dieses Bedürfnis erfüllt. Zuerst war war zuerst das Genre unserer Wahl, und das ist auch definitiv eine unserer Wurzeln, aber wir kümmern uns nicht darum, ob das Endergebnis dann Doom oder sonstwas ist.
2002 erschien unsere erste offizielle Aufnahme; eine 40-minütige Demo, die recht gut angenommen wurde. Dann, nachdem wir 2004 bei Firebox unterschrieben, entstand „The Tatterdemalion Express“, unser Debütalbum. Dieses bekam ebenfalls exzellente Reviews und wurde generell bestens aufgenommen. Das motivierte uns, die gute Arbeit fortzusetzen. 2005, nach einigen Jahren der Arbeit an neuen Kompositionen und Gigs überall in unserem Land, tourten wir durch Europa, wo wir viel über das Tourleben lernten, auch über unsere wirklichen eigenen Interessen und über uns selbst und das Leben – es war eine unvergessliche Zeit. Nun haben wir kürzlich unser neues Album „Draining the Waterheart“ veröffentlicht und eine weitere Europatour mit Saturnus – und einige Teile der Tour mit Thurisaz und Ablaze in Hatred – abgeschlossen. Auch eine sehr schöne und intensive Erfahrung. Gegenwärtig arbeiten wir wieder an neuen Kompositionen, die in eine experimentellere Richtung gehen werden.

Um ehrlich zu sein, wenn man mich nach Metalbands aus Chile fragen würde – ich könnte nur euch nennen. Wie sieht die Szene bei euch aus?
Um die Wahrheit zu sagen: Die Szene in Chile ist ziemlich klein, es ist also sehr schwierig, hier in Sachen von guten Gigs, guten Locations und auch guten Bands voranzukommen. Es gibt ein paar wenige gute Locations; die Besitzer wissen das und verlangen viel Geld, daher musst du auch viel Geld für die Eintrittskarte verlangen, und Chile ist im Vergleich mit den meisten europäischen Ländern nicht besonders reich, daher zahlen die Leute nicht, wenn du zu viel verlangst. Wie du siehst, ist diese Szene in einem endlosen Teufelskreis gefangen. Oft haben die Leute auch nicht die Zeit oder das Geld, um sich einer Band in einer professionelleren Richtung zu widmen. Deshalb kommt es häufig vor, dass es bei vielen Bands bei „einer guten Idee“ und sonst nichts bleibt. Das ist schade, denn ich denke, dass wir viel Potential haben. Ich muss aber sagen, dass sich all das gerade ändert, wenn auch sehr langsam. Trotz alledem haben wir es geschafft, uns eine loyale Fanbase zu erspielen.
Was die Bands betrifft: Zu allererst Poema Arcanus. Eine großartige Doom-Band mit einem progressiven Touch, sehr interessant und auch für uns ein wichtiger Einfluss. Die solltest du dir wirklich mal anschauen. Coprofago ist auch eine großartige, originelle technische Band aus Chile.Es gibt viele, viele andere Bands: Perpetuum ist eine andere sehr gute Band, die eine sehr originelle Art von Metal spielt, irgendwas wie „Immolation trifft Opeth, Death und Obituary“. Uaral spielen folkigen Akustik-Doom, in der Art der letzten Empyrium-Alben. Animus Mortis, Inanna, Target, Defectoscura, Godless, Mourners Lament und Electrozombies sind weitere Bands, die ich für sehr hochwertig halte, daher empfehle ich sie dir ernsthaft. Ich glaube, sie haben alle eine Myspace-Seite, wirf also mal einen Blick rein.

Welchen Ruf hat Metal in der chilenischen Öffentlichkeit?
Im Vergleich zu dem, was ich in Europa so mitbekommen habe, wird Metal von der Masse noch mit ein wenig mehr Ignoranz aufgenommen, was an den Vorurteilen liegt, die es in unserer Gesellschaft immernoch gibt. Metal, als Musikstil oder soziale Bewegung, ist hier in Chile noch sehr jung, deshalb befindet sich das alles noch im Wandel, und der Metal sucht nach seiner Identität.

Im Juli endete eure zweite Europatour – wie lief’s? Ging alles glatt oder gab’s Probleme?
Alles bestens. Eine unvergessliche Zeit für uns. Wir haben viele verschiedene Orte, viele verschiedene Leute kennengelernt. Wir haben in ungefähr 10 Ländern gespielt und viel über das Touren und auch über uns selbst gelernt. Ich denke, nach dieser Tour sind wir als Band stark gewachsen, und ich hoffe, dass wir noch weiter wachsen werden.

Als du das erste Mal mit Mar de Grises geprobt hast – hättest du da gedacht, dass ihr mal durch die Welt touren würdet?
Ganz ehrlich? Nein. Nicht weil ich am Potential der Band zweifelte, sondern weil ich ein 19 Jahre alter Junge war, der nicht wusste, wohin er sich bewegte oder was er wollte; ich wollte nur spielen und dachte nicht über die zukünftigen Möglichkeiten der Band nach. Heute ist alles klarer, daher konnten wir systematischer arbeiten, um Ziele zu erreichen und zu wachsen, ohne dabei die Hauptsache, die Gefühle und die Gründe für das Musikspielen, aus den Augen zu verlieren.

Ist das Publikum hier anders als bei euch in Südamerika?
Ja. Die Publika in Chile und Südamerika sind enthusiastischer und „verrückter“ als die meisten europäischen. Das heißt nicht notwendigerweise, dass sie es mehr genießen und mehr dabei empfinden; sie zeigen ihre Begeisterung einfach mehr als die meisten europäischen Zuschauer. Meiner Meinung nach gibt es dafür eine einfache Erklärung. Wir hatten hier in Chile von 1973 bis 1989 eine Diktatur. Das bedeutete, dass es nicht nur im Metal, sondern in allen Musikstilen, für Bands fast unmöglich war, herzukommen und aufzutreten. Deshalb hatten wir nie die Möglichkeit, die Entwicklung des Metal in den entscheidenden Jahrzehnten, den Siebzigern und Achtzigern, zu beobachten und mitzuerleben; wir konnten nur aus der Ferne zuschauen, und damals war das Internet natürlich noch keine Option. Nach dem Ende der Diktatur 1989, fingen die Bands langsam an, nach Chile zu kommen. Die erste Metalband, die wir hier hatten, war Kreator 1992. Nach dem, was ich dir gerade erzählt habe, kannst du dir sicher die Reaktionen der Metalheads damals ausmalen, die, mal ganz abgesehen davon, dass es das erste Metalkonzert einer großen ausländischen Band war, wütend wegen all der Unterdrückung während der Diktatur waren. Ich denke, es ist verständlich, dass sie völlig ausgeflippt sind. Ich war nicht dort, weil ich erst 11 Jahre alt war, aber ich denke, durch das, was Petrozza nach dem Konzert gesagt hat, kannst du es dir in etwa vorstellen: „In Chile haben wir um unser Leben gefürchtet“. Danach begannen die Bands nach Chile zu kommen, aber nur sehr langsam. Ein, zwei oder vielleicht drei Bands im Jahr, aber nicht mehr. Erst 1998 ging es richtig los. In diesem Jahr hatten wir Death, Cannibal Corpse, Moonspell, wieder Kreator, Slayer, Anthrax, Testament… Wie du also siehst, kommen erst seit 10 Jahren nach Chile, deshalb drehen die Leute immernoch durch, wenn es passiert. In Europa passiert das kaum einmal, weil die Leute dort wahrscheinlich verwöhnter sind; jedes Wochenende oder jeden Tag kommen Tonnen von Bands. Nun, mit der Zeit und durch die Globalisierung werden sich die Dinge auf jeden Fall ändern.

Ich nehme an, ihr könnt nicht nur von eurer Musik musik leben – nicht weil sie schlecht ist (ich liebe sie!), sondern weil sie nicht „mainstream“ genug ist. Wie bringt ihr euer Alltagsleben und so ein Unternehmen wie eine Europatour zusammen?
Es ist schwer. Wir müssen unsere Zeit zwischen unseren Jobs, Lernen, Familie und der Band aufzuteilen. Tja, aber ich denke, wenn du es wirklich liebst, hast du unter allen Umständen die Zeit dazu.

„Draining the Waterheart“ ist jetzt schon seit ein paar Monaten draußen. Was habt ihr für Reaktionen erhalten?
Sehr gute Reaktionen. Obwohl wir, was die Produktion betrifft, mit dem Endprodukt nicht vollends zufrieden sind, waren die Reaktionen gut, und das hilft manchmal dabei, die Details zu vergessen, die uns beim Album nicht gefallen haben. Nichtsdestotrotz sind wir ziemlich glücklich mit dem Resultat.

Was ist dieses „Wasserherz“, das im Albumtitel vorkommt – und warum muss es entwässert werden?
Einige sagen, dass Wasser das perfekte Abbild dessen ist, was Chaos sein kann, denn es bewegt sich unendlich lange in unendlich viele Richtungen. Das Herz ist der am häufigsten genannte Platz fü den Ort, an dem die Gefühle entstehen. Also ist ein „Wasserherz“ ein Herz, das höchst chaotische Emotionen ausstößt. Es muss nicht trockengelegt werden, wie du es sagst, das machst du nur, wenn es nötig ist oder du es willst. Der Titel ist nur eine Einladung dazu, es unter der Benutzung des musikalischen Inhaltes zu tun, wobei man da den Versuch, es trockenzulegen als endlos ansehen sollte, so nutzlos es auch sein mag – um aufzuklären, was wir fühlen. Jedes Lied funktioniert als Katalysator, der die „negativen“ oder manchmal auch „positiven“ Attitüden – wie Stolz, Neid, Furcht etc. – des Menschen absaugt, damit wir im Endeffekt die reine Essenz der Gefühle erreichen und fühlen können. Aber es geht nicht darum, sie zu rationalisieren; es ist mehr ein Versuch sie zu erreichen, wie gesagt, und den wahren und unberührten Kern der menschlichen Gefühle zu erspüren, die, genau wie Wasser, sich unendlich weit in unendlich viele Richtungen bewegen.

Und wo wir gerade dabei sind – was ist eigentlich ein „Tatterdemalion Express“?
A Tatterdemalion Express is a train that has no defined destination, nor precise stops, just as a tatterdemalion’s life. It is a trip that starts in our hearts passing through whoever wants it to pass, and feels identified with the sound of its rails and melodies. It is a trip in three quarters of present and one quarter of future. (Da diese Aussage sehr metaphysisch geraten ist und ich bei der Übersetzung ganz im Geiste der Band den ursprünglichen Gedanken nicht verfälschen will, belasse ich die Antwort im O-Ton. Beim „tatterdemalion“ handelt es sich um einen Landstreicher. – Anm. d. Red.)

Was hat es mit dem „Woodpecker“, dem Specht, auf sich?
Selbstzerstörung, nehme ich an. Irgendwann wirst du, was du isst. Dein natürlicher Drang wächst, und du verlierst die Kontrolle darüber, und irgendwann wirst du schließlich, was du unbewusst zerstört hast, als du den natürlichen Drang zerstört hast, es zu konsumieren – daraus resultiert eine unbewusste, fortlaufende Selbstzerstörung. Genau wie ein Specht das Holz zerstören muss, um die Würmer darin zu erreichen (klugerweise verursacht er damit aber kein Ungleichgewicht irgendeiner Art).Vielleicht wollte ich ausdrücken, was meine Gefühle dazu waren, was wir unserem Zuhause, unserem Planeten antun, als ich das Lied schrieb… Oder vielleicht wie ich mich fühle, wenn ich mich manchmal Leuten gegenüber, die mich wirklich lieben und mich so akzeptieren, was ich bin, dämlich verhalte.

Mal angenommen, ich würde eure Musik jemandem vorstellen wollen – welches Lied sollte ich ihm/ihr vorspielen?
„Recklessness“, „To see Saturn fall“, „Deep-seeded hope avant-garde“ und „Kilómetros de Nada“.

Wie ist es zur MCD „Unconscious Passenger“ gekommen? War das Material, dass nicht auf das Album passte oder war so etwas für „Draining The Waterheart“ eh geplant?
Die Idee zu einer Bonus-CD kam von Firebox, unserem Label. Natürlich haben wir zugestimmt. Wir wollten mit dem Bonusmaterial von „DtW“ neue Soundlandschaften erkunden. Wir wollten das nicht als Anhängsel, sondern mehr als Ergänzung haben. Ich denke, es ist dieselbe Essenz, mit den gleichen Fundamenten, Suggestionen und Zielen wie „DtW“, aber in einer anderen Form.

Wenn ich persönlich an Chile denke, dann sehe ich eher Bilder von Sonne, flimmernder Hitze, sandigen Straßen und was weiß ich vor meinem inneren Auge. Aber eure Musik ist da ganz anders – düster, verträumt und recht „kühl“. Wie passt das zusammen?
Diese Bilder, die du dir vorstellst, sind teilweise nah an der Realität, aber neben dir gibt es immernoch einige Leute in Europa, die nicht wissen, wie es in Chile wirklich aussieht und sich Chile als tropisches Land vorstellen; das ist es nicht. Chile ist ein sehr langes Land, von Nord bis Süd rund 5.000 Kilometer lang; im Norden haben wir die trockenste Wüste der Welt (die Atacama-Wüste), mit sehr hohen Temperaturen und brennender Sonne, aber im Süden ist es sehr wolkig und regnerisch, so regnerisch wie in jedem nördlichen Land. Wie du siehst, kann man Chile in Sachen Klima als „Standardland“ zur Geburt von Doom- oder ähnlichen Bands sehen, wenn du so willst.

Woher nehmt ihr eure Inspirationen?
Hauptsächlich ist es das, was wir zu jedem Aspekt des Lebens fühlen. Wir übersetzen das einfach in Musik und Texte und versuchen dabei, so ehrlich wie möglich damit zu sein, was wir in uns und um uns herum finden, um es authentisch rüberzubringen.

Fällt es leichter Texte für eure Musik in der Muttersprache zu verfassen oder doch eher in Englisch?
Natürlich in Spanisch. Aber manchmal kommt es uns einfach so vor als ob das Gefühl, das wir mit einem Text transportieren wollen, besser zu Spanisch passt, und manchmal besser zu Englisch. Das ist eine sehr subjektive Sache. Manchmal kennen wir das genaue englische Wort einfach nicht, um etwas zu beschreiben, was wir fühlen. Die Sprache ist nur das Medium und wir wählen sie nur zu den Zwecken, die ich dir genannt habe, nicht mehr.

In den Danksagungen erwähnt ihr viele Bands der skandinavischen bzw. europäischen Doom-Metal-Szene. Gibt es da auch persönlichen Kontakt oder sind das nur Internet-Bekanntschaften?
Wir haben zwei Europatouren absolviert, auf denen wir viele Leute und Bands getroffen und kennengelernt haben. Daher hatten wir schon persönlichen Kontakt mit einigen der Bands aus der Szene, die du erwähnt hast.

Alles klar, das war’s! Jetzt kannst du noch das metal1.Assoziationsspiel bestreiten. Sag mir einfach, was dir zu diesen Begriffen einfällt:

Aarni: Krank. Mag ich.
Emos: ?
Salvador Allende: Kein politischer Extremist hat jemals recht.
Donald Duck: Unschuldiger Cartoon. Irrelevant in meinem Leben. Ich glaube nicht an den ganzen amerikanischen Politikscheiß, der da angeblich hintersteckt.
Chili con Carne: Perfekte Geschmackskombination. Ich liebe es.
Glaube: Ich glaube fest an viele Dinge, bete aber nichts und niemanden an.
metal1.info: Hingabe.

Alejandro, ¡muchas gracias por el interviú! Ich wünsche dir und Mar de Grises weiterhin viel Erfolg – und kommt doch bald mal wieder nach Deutschland! Die letzten Worte gehören dir.Vielen Dank für deine Zeit und deine Unterstützung. Wir hoffen wirklich, dass wir auf der nächsten Tour auch mal größere Städte in Deutschland besuchen können. Danke an alle, die sich mit dem, was wir machen, identifizieren können und jedem, dessen Interesse beim Lesen dieser Zeilen geweckt wurde.Grüße vom Ende der Welt!

Geschrieben am von Metal1.info

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