Festivalbericht: Festival-Mediaval – Kultur-Biergarten 2020

04.09.2020 - 06.09.2020 Selb, Goldberg

festival mediaval kulturbiergartenFür viele Musik-Fans ist die Festival-Saison das Highlight des Jahres. Genre-Festivals sind Treffpunkte für Gleichgesinnte, die Auszeit vom Alltag suchen, und die mit Freunden bei guten Getränken die Musik ihrer Lieblingsbands genießen wollen. Das Festival-Mediaval ist einer dieser Orte, und wie jede auf Publikumsmassen angewiesene Veranstaltung stand es 2020 lange Zeit auf der Kippe. Doch es vollständig ausfallen zu lassen war für Veranstalter Bläcky nur die allerletzte Option. Nach vielen Umplanungen, Neubuchungen, Entwicklung von strengen Hygienekonzepten und langen Gesprächen mit der Stadt Selb und den zuständigen Ministerien war es schließlich möglich, das Festival als Kultur-Biergarten mit einem Bruchteil der üblichen Gästeanzahl stattfinden zu lassen. Ein Festival mit Abstand – aber ganz sicher nicht mit weniger Herz.

Kulturbiergarten1Es sind komische Gefühle, die einen überkommen, wenn man – wie jedes Jahr – den Goldberg hinaufläuft. Ausgestattet mit Maske und Desinfektionsmittel schreitet man übers Gelände, es ist warm, man begegnet den ersten bekannten Gesichtern. Ohne Umarmung, ohne das Lächeln zu sehen. Man muss doppelt so viel lachen, damit es bis an die Augen reicht. Ein kurzer Blick über die Wiesen und es ist ein kleiner Stich ins Herz: der Anblick von weit auseinanderstehenden Biergarnituren vor der Bühne, das fehlende internationale Publikum, die fehlenden Reihen an Lager-Zelten. Überhaupt fehlt viel, was das Festival-Mediaval doch immer ausgemacht hat. Aber der Herzschmerz dauert nur kurze Zeit an, denn er wird zügig abgelöst von Dankbarkeit und Vorfreude. Nach langen Monaten der Isolation vor einer Bühne sitzen, Livemusik hören, mit den lang vermissten Freunden reden, heißen Guaranawein trinken und Schupfnudeln essen, das ist pures Glück.

Wie jedes Jahr gibt es eine Ansprache von Veranstalter Bläcky, der im Pandemie-Jahr ganz besonders mit den Tränen zu kämpfen hat. Das Festival kann mit 200 Besuchern bei üblichem Umsatz nicht überleben, die Bands spielen überwiegend für Hutgeld und in dessen Vorreiterrolle darf dieses Jahr beim Festivalbetrieb rein gar nichts schiefgehen, erst recht nicht beim strengen Hygienekonzept. Jede Eintrittskarte ist ein fester Platz an den Biertischen. Es darf die Maske nur sitzend am Tisch abgenommen werden – steht man zum Klatschen oder Tanzen auf, muss sie wieder aufgesetzt werden. Gruppenbildung ist auch stehend nur mit den anderen Sitznachbarn des eigenen Tisches erlaubt. Vor den Schänken und Gastro-Ständen gibt es aufgemalte und aufgebaute Laufwege. Aber noch während Bläcky spricht, sieht man es in den entschlossenen Gesichtern der Besucher: Jetzt erst recht. Wir halten zusammen.

Musikalisch legen HEITER BIS FOLKIG die Betonung auf den ersten Teil ihres Namens. Neben Alkohol und Liebe besingt die Combo auch den Tod mehrfach erfrischend fröhlich. Einzelne Stücke erhalten ein kleines 2020-Upgrade mit neuen Strophen, „Ye Jacobites“ und „Loch Lomond“ fügen sich stimmig in das Set ein und am Ende bleibt ein launiger Opener. Das Bandmotto „Saufen für den Weltfrieden“ könnten die Musiker auch prima auf „Saufen für den eigenen Seelenfrieden“ ummünzen. Apropos Saufen: THE BLACKBEERS stellen im Anschluss mit „Whiskey In The Jar“ früh klar, wohin die Reise geht. Die Band, die sich auf dem Festival-Mediaval formiert hat, entfacht zum ersten Mal echtes Party-Feeling, einerseits mit selbstgeschriebenen Stücken wie „All For Me Grog“ oder eigenen Interpretationen, die sich von „A Bottle A Day“ von Fiddler’s Green bis zu „Hey, hey, Wickie!“ erstrecken. Irgendwann überträgt sich die positive Energie auch auf die Kreativität des Publikums: Einige heben zu „Auld Lang Syne“ ihre Bänke über den Kopf, um gemeinsam mit THE BLACKBEERS im Rahmen des gültigen Hygiene- und Sicherheitskonzepts zu feiern. Deutlich gediegener geht es bei POETA MAGICA zu. Als dritte von drei Gruppen beschließt die Formation des musikalischen Teil des Freitags. Holger Funke, seine Frau und die zahlreichen weiteren Musiker sind feste Größen beim Festival-Mediaval und wie bei vielen Auftritten davor spricht sehr viel Hingabe aus den überwiegend skandinavischen Liedern, denen oft die Nyckelharpa einen charakteristischen Klang verleiht. Zu den einzelnen Instrumenten hat Holger auch einige Anekdoten parat, ebenso wie zu den Stücken, die von Liebesballaden über Wikinger bis Es-werden-alle-sterben-Szenarien eine bunte Mischung abdecken. Die musikalische Umsetzung ist dabei vergleichsweise homogen mit einzelnen Akzenten, gerade beim weiblichen Gesang.

Als feste Größe des Festivals dürfen auch PURPUR nicht fehlen. Die beiden Schwestern spielen sowohl Freitag Abend auf der Gauklerbühne als auch Samstag Morgen auf der Hauptbühne, und haben dafür zwei unterschiedliche Sets mitgebracht. Abends auf der kleinen Bühne wird es kuschelig, in einer knappen halben Stunde gibt es vier getragenere Stücke zu hören. Dabei geht es nicht nur in das Reich der Mythen und Legenden („Furien“, „Walkürensang“), sondern vor allem auch ganz nah ans Herz. „Westwind“ handelt von Liebe und Sehnsucht, und „Hoch die Gläser“, vorgetragen zu dritt mit Gastsängerin Susi, von der besonders präsenten Sehnsucht nach geselligem Zusammensitzen, Trinken und Singen. Etwas länger ist dagegen ihr zweites Set um kurz nach elf auf der Hauptbühne. Mit vorwiegend englischsprachigen, keltisch angehauchten Songs und den melancholischen Harmonien passt die Musikauswahl hervorragend zum kühlen, aber zumindest noch anfangs sonnigen Morgen. Begleitet werden PURPUR diesmal von Maria an der Harfe, die den Stücken eine noch träumerische Note verleiht. Besonders die lange „Geschichte vom Wolfskind“ sowie „Auf, Brüder, auf“ können bezaubern. Erst in der zweiten Hälfte des Sets geht es mit dem „Ritterlied“ und „Das Leben ist manchmal beschissen“ noch kurz in die klamaukige Richtung. Besonders letzteres hat mitten in der Pandemie den gewünschten Katharsis-Effekt. Bei mittlerweile strömendem Regen dürfen auch die anwesenden Kinder einmal ganz laut „beschissen!“ schreien.

Holger und Max von PAMPATUT sorgen nach kurzer Pause auf der Hauptbühne schnell wieder für gute Laune beim Festival-Publikum: Auch die sitzende Menge stellt das erfahrene Duo vor keine allzu große Herausforderung. Musikalisch präsentieren die beiden Männer ihre gewohnten Gute-Laune-Nummern wie „Rundadinella“, als Running Gag des Auftritts dient dieses Mal der Kabelkanal vom FOH zur Bühne: Jedes Mal, wenn ein Besucher versehentlich oder absichtlich darauf tritt, zieht dies eine leicht bis stark übertriebene Reaktion auf der Bühne nach sich, für die sogar manches Lied kurzerhand unterbrochen wird – manchmal auch ganz ohne, dass der Schuldige es überhaupt mitbekommt.

Für Marcus van Langen brachte das Festival-Mediaval dieses Jahr eine gute und eine schlechte Nachricht: Zwar musste das Comeback von VAN LANGEN nach 10-jähriger Bühnenabstinenz gestrichen werden, doch dafür bekam er mit DES TEUFELS LOCKVÖGEL die Gelegenheit, live ein bisschen zu experimentieren. Die „Rabenballade“ oder auch „Ai Vis Lo Lop“ zählen nicht zur üblichen Setlist des Trios, ebenso wenig wie der VAN LANGEN-Klassiker „Siechentrost“. Mit seiner Songauswahl wirkt der Maestro sehr zufrieden, mit den Publikumsreaktionen nicht immer. Ein bissiges „Man kann auch im Sitzen klatschen“ kann er sich nicht verkneifen. Die Menge geht darauf ein und gegen Ende ist auch Marcus van Langen wieder milde gestimmt.

TRISKILIAN sind diesmal nur zu dritt auf der Bühne, doch auch ohne Pilipp zeigen die Weltmusiker, wie sehr es sie freut, wieder auf der Bühne zu stehen. Gemeinsam legen sie große Spielfreude an den Tag, und besonders Sängerin Jule strahlt, als wolle sie die fehlende Sonne ersetzen. Heute spielen sie nur Eigenkompositionen, zu denen sie jeweils eine kurze Erklärung mitliefern. So gibt es beispielsweise ein Gedicht von Kilian über liebende Götter zu hören oder Stücke wie „Vielfalt“ und „Schattenwelt“. Melancholisch wird es kurz, als sie „Windharfe“ anstimmen. Den Song haben sie immer mit Joost gespielt, der leider bereits verstorben ist, und so ist ihm das Stück kurzerhand gewidmet. TRISKILIAN können daher trotz des fehlenden Bandmitglieds ein schönes, abwechslungsreiches Set anbieten.

Die härtesten Töne des Festival-Wochenendes schlagen die fränkischen Power-Metaler WINTERSTORM an. Nach dem Gewinn des Goldenen Zwergs und einigen weiteren Auftritten kehren Sänger Alex und Co. in neuer Besetzung zurück zum Goldberg. Trotz starker Auftritte und einer unter dem Strich auch soliden Headliner-Show beim Festival-Mediaval ist es in den letzten Jahren etwas ruhiger um die Bayreuther geworden, ihr letztes Album „Cube of Infinity“ hat bereits rund fünf Jahre auf dem Buckel. Dennoch lassen WINTERSTORM keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie immer noch mitreißende Shows spielen können. Von Bühnenrost oder Coronafrust keine Spur, statt dessen gibt der Fünfer direkt ordentlich Gas und überzeugt besonders durch melodische Riffs. Mag zwar musikalisch kein direkter Bezug zum Folk- oder Mittelalterbereich, so drehen sich immerhin die Texte um alte Schlachten und Kriege wie in „Sail The Unknown Seas“. Speziell „The Stormsons“ und „Into The Light“ funktionieren auch fernab gängiger Klischees und Genregrenzen. Während die Menge ordentlich ins Schwitzen kommt, darf sich auch Schlagzeuger Jonas am Gesang austoben und WINTERSTORM heizen ordentlich ein, während Gitarrist Tobi auf der Bühne schmunzelnd nach eigener Aussage eher ins Frieren kommt. Auf den starken Auftritt wirkt sich dies wiederum in keiner Weise aus.

Zum Abschluss spielen CORVUS CORAX sorgen mit ihrem erweiterten Marktprogramm auf. Die musikalisch-mittelalterlich Reise erstreckt sich wie gewohnt über ganz Europa: Zu „Totus Floreo“ und den Merseburger Zaubersprüchen gesellt sich auch „Avanti“ für Norditalien und eine Geschichte aus Transsylvanien über Dracula mit Alkoholallergie. Im Dudelsackreigen fehlen zwar die opulenten Bühnenaufbauten und Instrumente aus vergangenen Goldberg-Shows, doch genau wie allen anderen Formationen merkt man auch CORVUS CORAX die Freude an, überhaupt in diesem Rahmen auftreten zu dürfen. Castus übernimmt in gewohnter Rolle marktschreierisch die Rolle des Sprachrohrs: Wer bis Sonntag seinen Mann stehen kann, wäre keine Frage eines Festival-Wochenendes, sondern sei auch schon im Mittelalter thematisiert worden. Das instrumentale „Isabella“ könnte als Durchhalteparole dienen, besonders munter wird es bei „Herr Wirt“. Wer mit Dudelsäcken und klassischer Marktmusik nicht warm wird, kommt schnell an seine Grenzen – das zeigt auch diese Show. Als Kontrast zu Winterstorm funktionieren CORVUS CORAX allerdings – besonders als  musikalische Untermalung, um den Samstag stilvoll ausklingen zu lassen.

An der Gaukler- und Schausteller-Front bietet der Kulturbiergarten eine bunte Mischung von humorvoll bis träumerisch. KAHIRA mit orientalischem Tanz und BEATRICE mit Kontaktjonglage in fantasievollen Kostümen sind feste Größen auf dem Goldberg und dürfen auch in diesem besonderen Jahr nicht fehlen. Besonders überzeugen können OPUS FURORE mit ihrer charmanten Jonglage „in der Karibik Nordbayerns“. Die beiden Artisten wechseln unter anderem ihre Kleidung, während die Keulen über den Goldberg fliegen. Später integrieren sie auch das Publikum in ihre Show, unterhalten mit viel Wortwitz und sammeln Fleißkärtchen, indem sie spontan auch einen der Slots von Basseltan übernehmen, die krankheitsbedingt kurzfristig ausfallen. Dafür bringt NIKODEMUS DER GAUKLER, die eine Hälfte von Basseltan, spontan sein Soloprogramm gleich zweimal auf die Bühne und sorgt mit musikalisch wie sprachlich Gewandtem für eines der Highlights des Wochenendes. Titel wie „Pappelwappenklapperritter“ legen nahe, wie gefordert das Sprachzentrum des Marktveteranen wird, der seine Darbietung mit „H-Ausfall“ krönt: In dessen Rahmen subtrahiert Nikodemus immer mehr Buchstaben aus ganzen Sätzen, die dennoch verständlich bleiben. Selten wurde auf dem Festival-Mediaval bei der Kleinkunstbühne mehr gelacht, vielleicht noch vor einigen Jahren bei Sören Vogelsang als „Das halbe Niveau“.

Um das beliebte Literaturzelt nicht völlig ersatzlos zu streichen, gibt es auf der Gauklerbühne auch zwei Lesungen zu hören. So werden beispielsweise drei Geschichten aus der Festival-Mediaval-Anthologie „Wir sind die Bunten“ von ihren jeweiligen Autoren vorgelesen. Die Anthologie beschäftigt sich mit dem Festival selbst, mit tollen, realen erlebten Momenten oder auch fantastischen Zwischenfällen auf dem Goldberg. Die vielen humorvollen und liebevollen Verweise auf die liebgewonnenen Eigenheiten des Festival-Mediaval machen ganz wehmütig und lassen Sehnsucht nach normalen Zeiten aufkommen. Ganz weit weg von normalen Zeiten ist das neueste Werk von LUCY VAN ORG. Ihn ihrem Buch „Vagina Dentata“, aus dem sie Samstag Abend noch einige Zeilen vorliest, wird ein ganz besonderes Gedankenexperiment durchexerziert: Was wäre, wenn Frauen Zähne in ihrer Vagina hätten und dadurch das starke, vorherrschende Geschlecht wären? Amüsant dreht die Autorin vorherrschende Rollenbilder auf links und zaubert vor allem den anwesenden Frauen im Publikum ein dickes Grinsen ins Gesicht.

Der dritte Tag beginnt und endet leger mit einem Weißwurstfrühstück, begleitet von bekannten Folk/Mittelalter-Songs, die DJ ROMULUS für die immer noch zahlreichen Gäste auflegt. Beim etwas planlosen Senf-Wettessen um kostenlose Tickets für 2021 entsteht fast sowas wie Marktatmosphäre, und bevor sich die kleine Menge langsam aber sicher auflöst, verkündet Bläcky noch die frohe Kunde, dass das Gesundheitsamt absolut nichts zu beanstanden hatte – und das Festival-Mediaval beziehungsweise der Kulturbiergarten 2020 der Beweis dafür ist, dass man auch in Pandemiezeiten sicher und gesund draußen Konzerte und Veranstaltungen wie diese genießen kann. Und so ist es nicht nur leichter im Geldbeutel, sondern auch deutlich leichter ums Herz, als man schließlich wieder nach Hause fährt.

Mit den gerade gestarteten Impfungen ist die Hoffnung noch nicht aufgegeben, 2021 wieder kleinere Veranstaltungen wie diese erleben zu können. Ein normaler Festivalbetrieb mit Zuschauerzahlen im fünfstelligen Bereich und zahlreichen internationalen Bands sehen wir zwar noch immer nicht passieren, aber es ist klar, so schnell geben die Veranstalter des Festival-Mediaval und dessen viele Helfer nicht auf. Irgendwie wird es weitergehen. Damit die vielen Wiederholungstäter ihr Wohnzimmer auf dem Goldberg auch 2021 wieder besuchen können. Und dieses ganz besondere Gefühl von Miteinander und kultureller Vielfalt auch in Zukunft erhalten bleibt.

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