Review The Neal Morse Band – The Grand Experiment

Vergeht ein Tag im Jahr, an dem NEAL MORSE keinen Song schreibt? Eine durchaus berechtigte Frage, schließlich sind innerhalb von 13 Monaten vier Studioalben unter seiner Mitwirkung erschienen: Im Januar 2014 die aktuelle Scheibe der Prog-Supergroup Transatlantic, „Kaleidoscope“; im August ein Singer-Songwriter-Soloalbum namens „Songs From November“ und im September die zweite Flying-Colors-Platte „Second Nature“. Ende Februar stand schließlich sein neues Prog-Solowerk „The Grand Experiment“ in den Läden.

Solowerk? Pardon – da ist mir wohl ein Fehler unterlaufen! Auf dem Cover steht erstmals THE NEAL MORSE BAND – denn für die neue CD hat Neal seine Herangehensweise geändert. Statt wie bisher den Großteil des Materials selbst zu komponieren und – böse gesagt – nur noch aufnehmen zu lassen, waren diesmal alle Musiker am Songwriting beteiligt; nicht nur seine langjährigen Weggefährten Mike Portnoy (The Winery Dogs, Transatlantic, ex-Dream Theater) und Randy George, sondern auch Live-Gitarrist und -Keyboarder Eric Gilette und Bill Hubauer.

Das Ergebnis klingt dann zwar nicht so experimentierfreudig, wie der Albumtitel verspricht – es ist schnell als ein typisches Neal-Morse-Album zu erkennen – aber die neuen Bandmitglieder bringen einige neue Elemente hinein, sodass die Platte doch eine Spur frischer als ihre direkten Vorgänger „Momentum“ und „Testimony 2“ ist.
Am deutlichsten hörbar ist das am sehr starken Gesang, z. B. gleich beim Opener „The Call“. Dieser startet mit einem Acapella-Part, bei dem die Stimmen einfach wunderbar harmonieren. Eine sehr geschmackvolle Einleitung, die es so bei Neal noch nicht gab. Die logische Konsequenz von drei starken Sängern: Neben Neal übernehmen auch Gitarrist Eric Gilette und Keyboarder Bill Hubauer über weite Strecken den Leadgesang. Das sorgt für Abwechslung und Farbe. Am eindrucksvollsten nutzt die Band ihre Stimmgewalt in der Ballade „Waterfall“. Hier erwarten den Hörer traumhafte mehrstimmige Gesänge, die zutiefst amerikanisch klingen und an Bands wie America, Styx oder Kansas erinnern. Am Ende, wenn sich sphärische Keyboardsounds gegen die kristallklaren Akustikgitarren durchsetzen, wähnt man sich wirklich in den Siebzigern. Songs wie „Entangled“ von Genesis sind dann stilistisch nicht mehr weit entfernt.

„Waterfall“ und „The Call“ sind die Glanzstücke des Albums. Perfekte Songs mit wohl durchdachten Arrangements, Hirn und Herz – wirklich stark! Der Titelsong „The Grand Experiment“ hingegen ist ein leichtfüßiger Rocker mit einem dieser Refrains, die man schon beim zweiten Mal mitsummen kann. Eine schöne Nummer, die sich recht zäh im Ohr festsetzt, erstaunlicherweise aber weniger schnell nervt, als bei solchen auf Ohrwurm getrimmten Songs üblich. Das kann man von „Agenda“, dem zweiten kurzen Stück, leider nicht behaupten: Der Track hat einen überaus penetranten Refrain, ein viel zu schlichtes Arrangement und passt stilistisch nicht zum Rest des Materials. Deshalb gehört er meiner Meinung nach nicht auf dieses Album. Das Lied ist die einzige Komposition, die Neal alleine geschrieben und ins Studio mitgebracht hat, ein Überbleibsel aus den Sessions zu „Songs From November“, auf das es stilistisch ebenso wenig gepasst hätte.
Statt „Agenda“ hätte die Band meiner Meinung nach lieber „New Jerusalem (Freedom Is Coming)“ von der Bonus-Disc der Special Edition auf das Album packen sollen. Das hat musikalisch mehr zu bieten und hätte mit seiner positiven Ausstrahlung den Fluss der Haupt-CD wunderbar unterstützt.

Das Magnum Opus „Alive Again“ steht am Ende von „The Grand Experiment“ und nimmt mit seinen fast 27 Minuten mehr als die Hälfte der Spielzeit ein. Wie alle Longtracks, an denen Neal Morse beteiligt ist, lebt auch dieses Werk wieder von tollen Melodien (der Refrain ist Spitzenklasse!), virtuosen Instrumentalmomenten und einem Finale, das diesen Namen auch verdient. Dieses Mal erwarten den Hörer auch einige neue Keyboardsounds, darunter unter anderem ein Spinett. Im direkten Vergleich zu Songs wie „The Door“ oder „The Conflict“ vom 2007er-Album „Sola Scriptura“ oder „The Separated Man“ von „One“ (2004) fällt „Alive Again“ in der Gesamtwirkung aber doch ein wenig ab. Nicht alle Parts können den Spannungsbogen aufrecht erhalten. Das ist allerdings Kritik auf hohem Niveau, denn auch „Alive Again“ ist vielseitig, unterhaltsam und wirkt kürzer, als es ist.

Fazit: Das Experiment ist gelungen – das Album ist kurzweilig und macht Spaß. Wer Neal-Morse-Musik mag, wird auch „The Grand Experiment“ genießen und einige neue Facetten im Sound entdecken. Der (mehrstimmige) Gesang ist phänomenal und die „amerikanischere“ Grundstimmung steht der Musik gut zu Gesicht.

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Wertung: 8 / 10

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