Konzertbericht: Slime w/ Erection

08.12.2023 München, Backstage (Werk)

Es klingt wie ein modernes Märchen: Als SLIME-Sänger Dirk „Dicken“ Jora die Band 2020 verlassen hatte, fanden die Punk-Rocker ihr Glück im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße und erleben mit dem ehemals wohnungslosen Berliner Straßensänger Tex Brasket am Mikrophon ihren zweiten Frühling. Auf das sensationelle Album „Zwei“ folgten ausverkaufte Shows ohne Ende – und auch das erste Gastspiel in München ist ein Publikumsmagnet.

ERECTION im Dezember 2023 in MünchenBereits ERECTION als Vorband dürfen sich um 20:00 Uhr über eine beachtliche Zahl an Fans im Backstage Werk freuen. Ob der Name dem Turbonegro-Hit „I Got Erection“ entlehnt ist, bleibt ungewiss – sicher ist: Musikalisch sind die Regensburger:innen vom Punk ’n’ Roll der Norweger gar nicht so weit entfernt. Anders als bei Turbonegro steht bei ERECTION allerdings kein dickbäuchiger Bartträger, sondern mit Julia Melzer eine zierliche Sängerin im Zentrum des Geschehens. Diese zieht nicht nur mit ihren grellrosa Haaren und ihrer forschen Art alle Aufmerksamkeit auf sich: Obwohl gesundheitlich angeschlagen, tobt sie von der ersten bis zur letzten Minute über die Bühne und motiviert damit eine beachtliche Anzahl Fans zum Pogo. Musikalisch wird die Darbietung über die gebotenen 50 Minuten hinweg leider etwas eintönig – um ERECTION kennenzulernen, hätten 35 Minuten vollauf gereicht. In Sachen Motivation und Einsatz kann man der Band heute aber nichts ankreiden: Zumindest ERECTION-Fans kommen bei dieser Show definitiv auf ihre Kosten.

SLIME im Dezember 2023 in MünchenWirklich los geht der Abend trotzdem erst mit SLIME – das aber mit Anlauf und Karacho: Nach einer Streicherversion der Basslinie von „Deutschland muss sterben“ als Intro starten die Hamburger direkt mit „Komm schon klar“ ins Set. Der unter die Haut gehende Song über das Leben auf der Straße ist so früh im Set fast verschwendet – aber natürlich auch eine Ansage. Denn SLIME 2023 sind eben nicht mehr die bräsige Schlager-Punk-Truppe, zu der sie in den letzten Jahren mit Dicken verkommen waren. SLIME sind wieder politisch, wieder roh, wieder lebendig – und alles dieses vielleicht so sehr wie nie zuvor. Mit unglaublichem Charisma führt Tex Brasket, der viele Jahre in München gelebt hat, durch sein Heimspiel: Da passt sogar irgendwie zusammen, dass er das Publikum einerseits „Ein Prosit“ anstimmen lässt, sich aber andererseits die Zeit nimmt, den historischen Hintergrund zu „Deutschland“ zu erläutern (der sich auf ein Kriegerdenkmal in Hamburg mit der Inschrift „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen!“ bezieht).

SLIME im Dezember 2023 in MünchenAuch die Songauswahl ist sozialpolitisch wie lange nicht: Von den 16 „Zwei“-Tracks finden ganze elf ihren Weg ins Set – darunter neben den erwähnten Opener auch „Safari“, „Heute nicht“ oder „Wut im Bauch“. Am zweitstärksten ist, mit fünfs Songs, das Klassiker-Album „Schweineherbst“ vertreten, gefolgt von „Alle gegen Alle“. Von den letzten Werken mit Dicken, „Wem gehört die Angst“ beziehungsweise „Hier und jetzt“, gibt es nur „Ebbe und Flut“ zu hören – auch das ist ein Statement, und nur wenige Fans dürften darüber traurig sein. Tatsächlich zeigt sich aber gerade in dieser Zusammenstellung einmal mehr, warum „Zwei“ mit seinem Titel völlig zurecht an „Slime 1“ von 1981 anknüpft: Wenngleich musikalisch deutlich in Richtung Hardrock gereift, versprühen die Texte wieder jenen ungeschönten Punk-Charme, den man dieser Tage in solcher brutalen Direktheit kaum noch zu hören bekommt. Dass SLIME gegen Ende noch „Linke Spießer“ raushauen, ist in diesem Kontext eine klare Ansage – an alle linken Spießer da draußen, aber vielleicht auch an einige Fans der letzten Jahre, denen die neuen, alten SLIME zu radikal geworden sind.

Auch die Performance wirkt, als hätte Tex der Band den Weg zum Jungbrunnen gezeigt: Dass Drummer Alex, wie die Band später per Social Media wissen lässt, bis wenige Minuten vor der Show am Tropf hing, um sich von einer kleinen Operation wenige Tage zuvor bestmöglich zu erholen, merkt man seiner Perfocmance zu keiner Sekunde an – und auch Nici am Bass sowie Christian und Michael an den Gitarren wirken so mitgerissen wie das Publikum vor der Bühne: Dort tobt erwartungsgemäß vom ersten bis zum letzten Song ein wilder Moshpit.

SLIME im Dezember 2023 in München

  1. Komm schon klar
  2. A.C.A.B.
  3. Nix von Punkrock
  4. Alle gegen alle
  5. Sie wollen wieder schießen (dürfen)
  6. Lieben müssen
  7. Bester Freund
  8. Alptraum
  9. Weil fickt euch alle
  10. Schweineherbst
  11. Deutschland
  12. Safari
  13. Computerstaat (Abwärts-Cover)
  14. Zweifel
  15. Gewalt
  16. Sein wie die
  17. Taschenlampe
  18. Goldene Türme
  19. Wut im Bauch
  20. Zusammen
  21. Heute nicht
  22. Ebbe & Flut
  23. Outlaw
  24. Störtebecker
  25. Linke Spießer
  26. Religion

Was sich mit dem Meisterwerk „Zwei“ bereits erahnen ließ, wird von der Livedarbietung untermauert: Waren SLIME unter Dicken in der deutschen Punkrock-Szene zu soetwas wie dem peinlichen Onkel geworden, aufgrund des Alters eine Respektsperson, aber eben auch ziemlich cringe, sind SLIME mit Tex wie ausgewechselt: politisch voll auf der Höhe, inhaltlich bis an die Schmerzgrenze (und darüber hinaus) authentisch und musikalisch eine Wucht. Wer einen lebenden Beweis für die abgedroschene Phrase „Punks Not Dead“ sucht – hier ist er.

SLIME im Dezember 2023 in München

Publiziert am von

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert