Konzertbericht: Tanzt! 2022

19.11.2022 München, Backstage (Werk)

Nach einem coronageplagten 2021 stand das diesjährige TANZT! lange unter einem guten Stern. Die Virenlast schlug erst kurz vor knapp zu und wieder erwischte es die Lokalmatadoren BRACHMOND, die kurzfristig ihren Opener-Spot krankheitsbedingt aufgeben mussten. Im verschlankten Line-Up erwächst wieder einmal eine Schweizer Combo zu den Highlights.

Von Platz 2 auf 1 rutschen die Franken CORVIDAE beim Tanzt! 2022. Als Leitmotiv haben sich die Folkrocker einen Raben ausgesucht und der Mix aus härteren Gitarren und dynamischen Melodieführungen funktioniert direkt zu Beginn richtig gut, untermalt von ersten Nebelfontänen. Gefühlt jedes Stück überzeugt durch Eigenständigkeit und Eingängigkeit. In Songs wie „Die Kammer“ und „Rabenvolk“ finden sich textlich zudem nette Querverweise zu „Krabat“. Im bis dato unveröffentlichten „Das Spiel“ präsentieren sich CORVIDAE nochmals von einer anderen Seite, was kompositorisch ebenfalls gelingt. Mit „Freibeuter“ und „Klabautermann“ öffnet sich die Kapelle thematisch der beliebten Seefahrerthematik und das Publikum geht den neuen Kurs bereitwillig mit. Einzig der zweistimmige Gesang ist nicht als solcher zu vernehmen und am Ende geraten die Raben etwas ins Trudeln, doch unter dem Strich empfehlen sich CORVIDAE für weitere Gastspiele.

Die Düsseldorfer STORM SEEKER zeigen sich dann dem Metal noch mehr als dem Folk zugewandt. Einzig Fabi an der Drehleier, Flöte und anderen Instrumenten dient als Brückenglied zwischen dem Nautic Metal und der folkigen Tanzveranstaltung im Backstage. Die übrigen Bandmitglieder an Gitarre, Schlagzeug und Gesang beweisen sich schnell als handwerklich starke Musiker, die sich souverän durch ihre (wenig überraschend) oftmals maritimen Themen spielen bzw. singen. Die Publikumsinteraktion kommt dabei nicht zu kurz: Naheliegenderweise simuliert die Menge mit ihren Händen ein Meer und darf sich wenig später sitzend bei „Row Row Row“ als Rudermannschaft auszeichnen. Den Song zu ihrem neue Musikvideo spielen STORM SEEKER eine Woche vor offizieller Veröffentlichung und auch der in den letzten Jahren oft bemühte „Wellerman“ findet seinen Weg in das Set. Wer sich auf den nautischen Metal in all seiner Urgewalt einlassen kann, für den funktionieren STORM SEEKER über die gesamte Spielzeit. Im Kontext des Tanzt! könnten einigen Besuchern die spärlichen Melodieparts wie die Flöte in „Drag O Below“ etwas zu wenig sein.

Bereits 2018 zählten die Schweizer KOENIX zu den großen Entdeckungen des TANZT! – und auch vier Jahre später spielen die fünf Eidgenossen eine begeisternde Show, die am ehesten als clubtaugliche Marktmusik oder Progressive Folk umrissen werden kann. Auf Gesang verzichtet der Fünfer bei seinen Geschichten über Gletscherweiber und Heinzelmännchen weitestgehend, doch die eindringlich-virtuosen Kompositionen wie „Perelin“ rund um Dudelsack, Sitar und Drehleier sprechen für sich. Kontinuierlich spannen die Musiker in ihrer selbsttitulierten Traumwelt völlig natürliche Bögen zwischen den einzelnen Liedern und legen geschickt Akzente auf einzelne Instrumente, Harmonien oder andere Ausprägungen ihrer Musik. Mitten im Set wird im Backstage plötzlich Walzer getanzt. Wer sich auf Märkten gefragt hat, wie „Ai Vis Lo Lop“ und „Herr Mannelig“ modernisiert und clubtauglich gemacht werden können, findet bei KOENIX die Antwort in 50 kurzweiligen Minuten, die mit entsprechendem Jubel quittiert werden.

Die ungarischen Folk-Metaller DALRIADA zählen auf dem Tanzt! zu den regelmäßigen Gästen aus dem Ausland, so auch 2022. An den musikalischen Grundzutaten hat sich bei den Ungarn wenig geändert: Noch immer dominieren die härteren Klänge, untermalt von Geigen und primär Lauras Klargesang. Ihre Fans hat die Band im Laufe der Jahre in München zweifellos gefunden, das beweist der diesjährige Auftritt, bei dem DALRIADA erstmals Songs von ihrem letzten Album „Őszelő“ zum Besten geben. Dieses steht ganz im Zeichen der Vorgänger wie „Nyárutó“ und gerade auf Dauer fehlt ein wenig die Abwechslung, auch wenn sich die Combo unter anderem mit einer Polka bemüht zeigt und handwerklich stark aufspielt. Die ungarischen Texte rund um historische Schlachten tragen zudem dazu bei, dass bei DALRIADA hierzulande primär die Musik im Vordergrund steht und dort tun sich kompositorische Grenzen auf, die bei den ersten Shows so noch nicht zum Vorschein gekommen sind. Für Tanzt!-Neulinge gibt es dabei immer noch viel zu entdecken, alle anderen haben entweder Gefallen gefunden oder nutzen den Auftritt für eine kurze Verschnaufpause.

Vom Headliner-Spot ging es für VROUDENSPIL dieses Jahr wieder zurück auf den vorletzten Platz im Line-Up des Tanzt! Nicht die einzige Änderung, denn zur Überraschung vieler Besucher steht Ex-Frontmann Ratz von der Planke im gesamten Set am Mikro und auch ein neuer Schlagzeuger nimmt in der Schießbude Platz. Wer sich die Frage gestellt hat, wie sich die neuen VROUDENSPIL-Songs von „Panoptikum“ mit altem Sänger anhören, der bekommt die Frage überraschend schnell beantwortet: Gleich drei Lieder vom letzten Album eröffnen das Set, namentlich „Kaleidoskop“, „Tanzbär“ und „Selbsträcher“. Diesen Nummern verpasst Ratz aka Sebi direkt seinen rotzigeren Anstrich, der an die Anfänge der Freibeuter erinnert. Die Songauswahl ist indes eher in den letzten Jahren verhaftet, so dass sich mit „Am Weltenrand“, dem umjubelten „Püppchen“ und „Weißes Rauschen“ auch einige Stücke des vorletzten Albums „Fauler Zauber“ im Set finden. Garniert werden diese mit gewohnter Publikumsinteraktion, wobei die Menge bei „Rebellion“ bereitwillig das Duell zwischen „Ho“ und „He“ eingeht. Von „Meute toter Narren“, „Ein unwichtiger Bösehold“ und anderen Klassikern, die lange besonders live nicht wegzudenken gewesen wären, haben sich VROUDENSPIL inzwischen etwas gelöst. Auch der neue Song „…bis zum Hals“ geht weiter in die Richtung, die sich auf den letzten Veröffentlichungen bereits angedeutet hat. Der Feiertauglichkeit tut dies indes keinen Abbruch: Im Gegenteil, in der aktuellen Ausrichtung wirken VROUDENSPIL ausgereifter, weniger verspielt und gleichzeitig immer noch vielseitig. Entsprechend wohlwollend fallen auch die Reaktionen des Publikums aus.

Den umgekehrten Weg von Vroudenspil gingen TANZWUT: 2017 noch im oberen Mittelfeld des Billings zu finden, kehren Teufel und Co. 2022 als Headliner zurück nach München. Ganze zwei Alben haben die Berliner in der Zwischenzeit veröffentlicht, namentlich „Seemannsgarn“ und „Die Tanzwut kehrt zurück“. Beide Scheiben prägen erwartungsgemäß das aktuelle Live-Set, unter anderem durch starke Nummern wie „Francois Villon“ oder den Titeltrack des aktuellen Werks. Insgesamt sind TANZWUT auch zu vorgerückter Stunde und nach einem langen Festivaltag auf Party getrimmt und ziehen die verbleibende Menge ordentlich mit. Das gelingt besonders durch folkig-elektronische Rocksongs wie „Pack“ oder „Brüder im Geiste“, aber auch manch ruhiger Moment wie „Bis zum Meer“ und „Die Geister, die wir riefen“ fügt sich stimmungsvoll ein. Einzig beim Sound muss das Münchner Publikum mit Abstrichen leben: Die Dudelsäcke und Teufels Stimme sind insgesamt sehr präsent, was besonders beim Organ des Zweihornigen inzwischen nicht immer zuträglich ist. Deutlich wird das Ungleichgewicht unter anderem bei den Merseburger Zaubersprüchen, bei denen das mehrstimmige Fundament im Refrain untergeht. Auch die Ansagen von Teufel führen etwas weit, wenn er beispielsweise vor „Narziss“ ausführlich darüber berichtet, wie er 250.000 Selfies von seinem Hintern bei Instagram postet. Für eine versöhnliches Ende sorgt er aber dennoch: Kommendes Jahr werden TANZWUT ihre „Silberne Hochzeit“ veröffentlichen und eine Tour spielen, auf der sie primär ältere Klassiker zum Besten geben. Eben jene fehlen auch beim TANZT!, so dass ein hervorragend inszeniertes „Hymnus Cerebri“ für einen intensiven instrumentalen Schlussakt sorgt.

Mit Corvidae und besonders Koenix zählen zwei Bands aus der ersten Hälfte zu den musikalischen Highlights des diesjährigen TANZT! Wer die Reise ins Backstage für die übrigen Bands angetreten ist, bekommt überwiegend das serviert, was vorab zu erwarten gewesen ist – mit Ausnahme des Sängerwechsels bei Vroudenspil und einigen weiteren liebenswerten Kleinigkeiten, die das Festival allein von der Atmosphäre jedes Jahr zu einer Empfehlung für all jene machen, die Lust auf die ganztägige folkige Dröhnung in allerlei Ausprägungen haben. Auch für Szeneneulinge und Neugierige ist das TANZT! ein passender Einstieg in das vielfältige Genre.

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