Review Coldplay – X&Y

Drei Jahre mussten wir auf den Nachfolger von „A Rush Of Blood To The Head“ warten. Drei Jahre, in denen die Medien die Band förmlich vor Anspannung zerrissen. Man hatte das Gefühl, alle Augen werden nur auf COLDPLAY gerichtet. Auch die Band selbst setzte sich dem Druck aus, ein Album aufzunehmen, dass schlicht noch besser als die ersten beiden Werke werden sollte. Dies ist auch der Grund dafür, dass COLDPLAY die Platte zu ihrem ursprünglich geplanten Veröffentlichungstermin noch nicht fertig hatten. Sie nahmen sich die Zeit, die sie brauchten. Und verzichteten dafür auf den nicht gerade kleinen Bonus der Plattenfirma, der auf sie gewartet hätte, wenn sie die Platte einfach so – unfertig – auf den Markt geworfen hätten.

Aus den kleinen Clubkonzerten zur Zeit ihres Debüts „Parachutes“ waren in der Zwischenzeit nach dem Release des zweiten Albums Großraumevents mit 5000 – 10000 Besuchern geworden. Das Open-Air-Happening am Fühlinger See in Köln, Teil der Tour zu „X&Y“, lockte gar 20000 Menschen an. „A Rush Of Blood To The Head“ hatte die Band beinahe ungewollt zu einem Massenphänomen gemacht. Wohl jeder kennt COLDPLAY, findet hochwahrscheinlich zumindest eine Single großartig und verbindet irgendeine emotionale Beziehung mit der Band. Auf Konzerten trifft man Menschen wirklich aller Alters- und „Typenklassen“. Es muss ein Element in der Musik der Band geben, das sehr viele Menschen anspricht.

Besonders schön an der bisherigen Diskografie der Band ist, dass sich die Alben von Sound, Produktion und Stil klar und deutlich unterscheiden. Das jeweils neueste Werk wirkt dennoch wie eine logische Weiterentwicklung des Vorgängers. „X&Y“ orientiert sich demzufolge schon eher an „A Rush Of Blood To The Head“ als an „Parachutes“. Geblieben ist der epische, breite und teils hymnische Klang des Materials. Auch die Melodien sind wieder sehr gelungen, mitreißend und abwechslungsreich. Der Sound von „X&Y“ grenzt sich jedoch insofern von altem Material ab, als das wir hier erstmals in nahezu jedem Song Sythesizer bzw. Keyboards hören. Zwar nehmen diese im Songgerust nicht eine allzu große Rolle ein, sodass wir z.B. keinerlei ausgiebige Keyboardsoli oder ähnliches hören, dennoch sind sie dauerhaft präsent. Meistens kreieren sie eine leicht surreale, spacige Atmosphäre und stehen mit angenehm warmen Klangflächen im Hintergrund. Über diese surreale Szenerie bereitet Gitarrist Jon Buckland mehr den je mitreißende, extatische Gitarrenklänge aus, die mal verhalten zur Atmosphäre beitragen, diese aber auch manchmal herzhaft verschlagen. Die gesamte Platte ist extrem ausproduziert, jeder Ton und jedes Hintergrundgeräusch sitzt da, wo es sitzen soll. Die Aufnahme ist demzufolge hell, klar und kraftvoll. Kritiker, die COLDPLAY Pathos, Kitsch und Überproduktion vorwerfen, werden auch sicherlich hier wieder fündig werden. „X&Y“ ist ganz klar eine Arena-Pop-Rock-Scheibe, aber dennoch mit einem so eigenen, sprudelnden Charme, dass man sich ihr kaum entziehen kann. Da ist es nahezu logisch, dass das Album vom Mainstream-Publikum gut aufgenommen wurde, wohingegen sich manch Alternative-Anhänger vor den Kopf gestoßen fühlt und sich fragt, ob das wirklich noch die Band ist, die solch „private Treffen“ wie „Parachutes“ organisierte.

Der Einstieg ins neue Werk ist – wer hät’s gedacht – mal wieder anders als beim Vorgänger. Nach dem Lagerfeuer-Einstieg auf dem Debütalbum und dem rotzigen, aber zugleich hymnisch-orchestralen „Politik“ auf Album Nummero 2, servieren uns Chris Martin & Co. mit „Square One“ auf „X&Y“ ein episches Meisterwerk voller Ideen- und Abwechslungsreichtum. „The future’s for discovering the space in which we’re travelling.“ Der Text passt perfekt zur „OuterSpace“-Atmosphäre, die der Track zu Beginn vermittelt. Dann setzt ein fast maschinell genau gespieltes Schlagzeug ein. Diesen Sound hat Will Champion übrigens auf der ganzen Platte, klingt sehr edel und technisch. Der Refrain bläst den Hörer – entsprechende Lautstärke vorrausgesetzt – einfach nur um! Sich nach oben schraubende Gitarrenwände, feine Effektspielereien im Hintergrund und ein Groove, der einen einfach nicht sitzenbleiben lässt bauen sich auf, der Song scheint zu atmen und zu leben. Nach ein paar Drumsamples wechselt man die Stimmung, nur zur Akustischen mit Sphärentönen – deren Wirkung einfach nicht genug gewürdigt werden kann – und bringt das Lied besänftigend zu Ende. „Is there anybody out there, who is lost and hurt and lonely too“ – „You wonder if your chance will ever come, or if you stuck in square one…“. Die leisen Atmosphärenklänge entfernen sich und wir sind wieder allein. Besser kann man nicht in ein Album einsteigen, besser kann ein 5-minütiger Opener, der nicht die Aufschrift „Progressive Rock“ trägt, einfach nicht gemacht sein. Nun packt uns aus dem unendlichen weiten, leeren, schwarzen Raum, der nur mit ein paar Milliarden Sternen besetzt ist, ein leises Piano aus der Ferne. „What if there was no line, nothing wrong nothing right“ – „What if there was no time, and no reason or rhyme“ – „What if you should decide, that you don’t want me there by your side, that you don’t want me there in your life“. In Sekundenschnelle sind wir aus dem Weltall zurück auf der Erde, zurück bei den zwischenmenschlichen Gefühlen, zurück bei der Liebe. Chris Martin zweifelt, leidet und hofft, dass es nur wieder so eine Wonne ist, begleitet von zarten Streichern, wie sie bei COLDPLAY wohl nun nicht mehr wegzudenken sind. „Every step that you take could be your biggest mistake“. Zum Refrain hin löst sich alles auf und wir werden umspült von purer Wärme und gesungener Zärtlichkeit. Es ist wieder Uhh-Ahh-Eskapadenzeit. Zum Dahinschmelzen schön. Und dann noch eine Oktave höher, mit nochmehr Streichern bitte! Man wünscht sich nur noch, es möge ewig so weitergehen! Mit „White Shadows“ erwartet uns dann etwas, das ich ganz naiv einfach mal als „Space Rock“ bezeichnen werde, obwohl ich ganz genau weiß, dass diese Bezeichnung wohl zu manch anderer Band wesentlich besser passt. Die Gitarrenlicks mit diesem sanften Mellotron-Tönen, dem statisch scheppernden Schlagwerk, das trotzdem irgendwie druckvoll klingt, wirken einfach wie ein total dicht gewebter Klangteppisch. Der Pre-Chorus ist wieder spannungssteigernd und hymnisch, und leitet fließend über in den ohrgasmatischen, ultramelodischen Refrain. Wie schaffen es COLDPLAY nur, mit immer noch so ganz einfachen Mitteln eine solche Atmosphäre heraufzubeschwören. „Oh, come on love, stay with me…“. Das Eingangs-Trippel auf „X&Y“ stich das der Vorgänger um längen. Atmosphäre, Spannung, Melodien, Instrumentation und Abwechslung – in allen Bereichen schöpfen die Jungs aus den Vollen und lassen den Hörer auch danach noch nicht los.

„Fix You“ und „Talk“ lassen uns noch weiter ins Coldplay-Universum eintauchen und geben zu keiner Stelle auch nur ansatzweise Anreiz dazu, das man hier etwas als nicht perfekt empfinden könnte. „Lights will guide you home and ignite you bones…and I will try to fix you“, säuselt Chris in „Fix You“, erst nur zu seiner linken begleitet von einer waschechten Hammondorgel, später dann zu seiner rechten auch noch mit einer Akustikgitarre harmonierend. Nach 2 1/2 Minuten kommt dann der Ausbruch, die Fesseln lösen sich, die Energie wird gesammelt, umgeleitet und mündet in unendlich tighten, harmonischen, umarmenden Gitarrenakkorden, die zwar jeder, der schonmal eine Gitarre in der Hand hatte, spielen kann, die aber dennoch hier „die Welt bedeuten“. „I see a stream down your face, I promise you I’ll learn from my mistakes.“ Mit „Talk“ reisen wir schon wieder ins Universum. Die brilliante Gitarrenmelodie in diesem Song haben COLDPLAY ausnahmsweise mal nicht selbst verbrochen, sondern sich von den deutschen Elektronikpionieren Kraftwerk („Computerliebe“) entliehen. Verzeihen wir es ihnen, denn rausgekommen ist ein Fünfminüter, den man einmal hört und dann immer wieder hören will. „Are you lost oder incomplete? Do you feel like a puzzle, you can’t find your missing piece? Tell me how you feel! Well I feel that they are talking in a language I don’t speak!“ Mal ehrlich, wer kennt dieses Gefühl nicht? Der nun folgende Instrumentalteil führt uns weiter in die unendlichen Tiefen, die fast sägenden Gitarren wirken wie Turbulenzen. Komisch, dass dies Turbulenzen sind, die man gern hinnimmt. „Nothing’s really making any sense at all.“

Erst nach „Talk“ erleidet „X&Y“ einen leichten Bruch, erst jetzt kommt das Gefühl auf, dass hier etwas vielleicht nicht ganz hundertprozentig zusammen passt. Und das ausgerechnet beim Titeltrack. Eigentlich ein melodramatisches Meisterwerk, mal wieder streichergetränkt und mit überzeugendem Spannungsbogen, das leider bei dem viel zu gewöhnlichen, leicht an die Beatles erinnernden Refrain zusammenfällt. Der Song ist toll, keine Frage, nur vielleicht nicht total rund. Das nachfolgende „Speed Of Sound“ war die erste Single, als solche sehr erfolgreich und auch gern gehört. Ist auch definitiv ein hübscher Song. Allerdings fällt hier reicht deutlich auf, dass man den Bekanntheitsgrad von „Clocks“ auf dem Vorgängeralbum ausnutzen wollte, um mit einem nicht gerade unähnlichen Song nochmal so einen Hit zu landen. Für sich genommen überzeugend, auf dem Album aber leider einer der schwächeren Nummern, was aber bei der hochkarätigen Konkurrenz aus dem eigenen Hause keine Schande ist. Hier könnte man natürlich auch mutmaßen, dass COLDPLAY den Song als Single für die Plattenfirma schreiben mussten. Der Refrain ist dennoch ein Mitsingteil ohne gleichen! „A Message“ geht in die Richtung von „God Put A Smile Upon Your Face“ oder „Green Eyes“, ist jedoch etwas flacher und mainstreamiger als das letztgenannte. Doch auch hier schaffen es die Jungs, das Ruder zum Refrain rumzureißen und den Song im späteren Verlauf so zu gestalten, das er in keinster Weise falsch platziert, schlecht oder gar flach wirkt. Eine gute Nummer, ohne groß hervorzustechen. Mit „Low“ erwartet uns nochmal ein etwas rockigerer Track mit einem sehr mitreißenden Mittelteil, einem schön grooven Bass und einem mal wieder majestätischen Refrain. „All you ever wanted to be, living in perfect symetry…“. „The Hardest Part“ ist eine ähnliche Nummer wie „In My Place“, ein Midtemposong, der einen wiedermal in die Tiefe Welt der Sehnsucht entführt. „The hardest part was letting go, not taking part“. – „You really broke my heart…“. Eigentlich hab ich mir den Song immer als Single gewünscht. Bisher ist er allerdings noch nicht erschienen, COLDPLAY gaben „Speed Of Sound“, „Fix You“ und „Talk“ den Vorzug. Allerdings wird die vierte Single höchstwahrscheinlich „The Hardest Part“ sein. Im Grunde genommen ist dies auch noch ein Song in Indiepop-Tradition, der dem Alternative-Publikum, Fans von Bands wie Travis, Embrace und Ähnlichem, sehr gut reingehen sollte. Gar nicht so mainstreamig. Dieses Attribut gilt auch für die verbleibenden Songs von „X&Y“. „Swallowed In The Sea“ beginnt unheimlich innig und leise, hier erinnert man sich fast an alte „Parachutes“-Zeiten. „And I could write a song, a hundred miles long, well that’s were I belong and you belong with me“. Das ist zum kuscheln, definitiv. Also, Freundin bereithalten! Natürlich gibts nachher wieder umspülende Alternative-Gitarren und eine schöne orchestrale Steigerung. „Twisted Logic“ beendet den offiziellen Teil von „X&Y“ etwas verquer und lässt den geneigten Hörer mit ein paar Fragezeichen zurück. Das ungewöhnliche, düstere und im späteren Verlauf auch ziemlich rockige Ende der Platte ist alles andere als positiv und trägt einen ziemlich nachdenklichen Unterton. „Hundreds of years in the future, there could be computers looking for life on earth. Don’t fight for the wrong side. Say what you feel like.“ – „It’ll go backwards but then, it’ll go forwards again“. Mit einfachen Worten beschreibt die Band hier, was sie von Technisierung denkt und der Zukunft der Menschen erwartet. Wie menschlich werden wir in der Zukunft noch sein? Passend dazu ist die musikalische Gestaltung des Songs sehr trotzlos, leicht aggressiv und vermittelt einen sehr technischen Eindruck, der aber ein weiteres Mal nur mit einfachsten Mitteln erreicht wird. Unter lauten Gitarrenwänden, schepperndem Schlagzeug und einem kreischen Chris Martin verlässt uns die Band, anschwellende Streicher beenden „X&Y“ schließlich so, wie „A Rush Of Blood To The Head“ beginnt.

Als Bonussong gibt es noch „Till Kingdom Come“, ein Lied, das Coldplay eigentlich als Duett mit Johnny Cash geplant hatten, welches aber aufgrund des tragischen Tods der Musiklegende nie mehr aufgenommen werden konnte. Hier kommt nochmals Lagefeueratmosphäre auf. Und zwar so stark, wie sonst nur auf dem Debütalbum. Hier präsentieren sich Chris Martin & Co. nochmals echt, pur und unverfäscht mit einem leichten Folk- und Countryeinfluss. „Say you come, and set me free. Just say you wait, you wait for me.“

Insgesamt betrachtet sind die 63 Minuten von „X&Y“ eigentlich das beste, was an eleganter und gutgemachter Popmusik in letzter Zeit erschienen ist. Genauso wie der Erstling und das Zweitgeborene ist auch „X&Y“ unabdingbar ein Teil der COLDPLAY-Familie, den ich nicht mehr missen möchte. Nach den ersten drei Alben nun eine definitive Reihenfolge festzulegen, halte ich für unmöglich. Jedes hat seinen Reiz und einen eigenständigen Stil mit ein paar kleinen Schönheitsfehlern. Fest steht für mich, dass „X&Y“ als Gesamtwerk am besten zu genießen ist. Es nimmt den Hörer mit auf eine emotionale Reise durch alle Höhen und Tiefen, die man sich vorstellen kann, entlässt einen zwar mit „Twisted Logic“ etwas angespannt, vermittelt aber insgesamt dennoch eine für mich sehr aufrichtende, mutspendende und warme Ausstrahlung. Man ist nicht melancholisch oder nachdenklich wie bei „Parachutes“, nicht so hin- und hergerissen wie bei „A Rush Of Blood To The Head“, sondern kann voller Tatendrang in den Tag starten.

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