Review Rome – The Dublin Session

(Chanson Noir/Neofolk/Irish Folk/Dark Pop) Man könnte meinen, Jérôme Reuter habe sich auf einen mephistophelischen Pakt eingelassen – in solch geringen zeitlichen Abständen bringt der umtriebige Luxemburger mit seinem Projekt ROME hochklassige Veröffentlichungen auf den Markt. Allein im Jahr 2019 brachte er es auf vier: Zum Jahresbeginn erschien der fantastische Longplayer „Le Ceneri Di Heliodoro“, der locker zu den besten der Bandgeschichte gehört, danach mit „Käferzeit“ eine Ansammlung experimenteller Ambient- und Industrial-Klangcollagen und im Dezember schließlich die EP „The Dublin Session“ sowie die Single „Hinter den Mauern der Stadt“. Um die beiden letzteren soll es nun gehen. So viel sei vorab gesagt: Sie fügen der typisch ROME’schen Spielart des apokalyptischen Chanson Noir ganz neue Facetten hinzu.

Bei der „Dublin Session“ ist der Name Programm: Die Musik klingt durchwegs nach einem Abend im Irish Pub, mit Schummerlicht und Guinness in Strömen. Kein Wunder: Entstanden sind die Aufnahmen recht spontan mit Session-Musikern aus der Hauptstadt der Republik Irland, die sich sonst in ebenjenem Umfeld ihre Brötchen verdienen. Angereichert mit Fiddle, Banjo, Bouzouki und Dudelsack kommt das Klangbild der neuen Songs ein ganzes Stück beschaulicher daher, als man es von Reuter gewohnt ist. Keine verstörenden Samples oder gar Drones konterkarieren, kommentieren, trüben die Lieblichkeit der simplen Harmonien. Und doch wäre ROME nicht ROME, würde es sich bei dieser Betulichkeit nicht trotzdem um ein trojanisches Pferd handeln.

Denn was Reuter hier textlich abliefert, ist einmal mehr alles andere als Schonkost. Der belesene Songwriter variiert eines seiner nie alt werdenden Lieblingsthemen: das des heimatlosen Individuums. Heimatlos, weil es sich aus seiner inneren, geistigen Heimat vertrieben wähnt, weil es mit seiner Beziehung zum „Vaterland“ hadert, weil es sich den Zeitenläufen nicht fügen oder sich schlichtweg nicht an einen Ort binden möchte. Einem politischen Lager biedert sich Reuter dabei zu keiner Zeit an. Vielmehr bietet er wertneutrale, dabei aber – wie es im Neofolk Tradition hat – durchaus streitbare, zuweilen ambivalente Projektionsflächen an. So ist etwa das flotte „Antenora“ nach dem Teil des neunten Höllenkreises aus Dantes „Göttlicher Komödie“ benannt, in dem die Vaterlandsverräter für ihre Vergehen büßen müssen, gibt aber ebenjenen eine Stimme, die sich gegen die Klasse der Herrschenden auflehnen. Das beschwingte Liedchen „Holy Ennui“ hat die Langeweile und den Verdruss zum Thema, der sich zuweilen einstellen, wenn ein Soldat nach dem Blutrausch des Krieges wieder im profanen Alltag Fuß fassen muss.

Lyrisch besonders interessant sind jedoch die etwas typischeren, eher elegisch angelegten Neofolk-Nummern: Da ist zum Beispiel „Slash ’n‘ Burn“, das mit dezenten, molligen Akkorden eher eine Stimmung der Resignation verbreitet als den titelgebenden Furor. Schließlich befasst sich der Song mit der Gemütslage unserer polarisierten und zutiefst aufgewühlten Gesellschaft, in der irrational-hasserfüllte Agitation wilde Blüten treibt: „I might be wrong but I’ve stopped caring.“

Und dann ist da noch die mit dem schwedischen Singer/Songwriter Thåström eingespielte Ballade „Europa Irredenta“, die sich in endzeitromantischer Bildsprache mit der Frage der europäischen Identität auseinandersetzt – und dabei nicht die Kontroverse scheut.

Der Begriff „Europa Irredenta“ kam in der Zeit, in der Europa in zwei Machtblöcke zerfiel, in Westeuropa zum Einsatz, um sich vom östlichen Mitteleuropa und Südosteuropa abzugrenzen, dessen Völker sich nicht nach westlichen Werten entfalten dürften. „Europa Irredenta“ heißt zudem eine 1923 erschienene Schrift des Soziologen Max Hildebert Boehm, dessen Theorien von völkischem Denken durchsetzt waren und der später mit den Nationalsozialisten nur zu gerne zusammenarbeitete. Boehm kritisierte die Entkopplung von Volk und Staat, forderte stattdessen – auch vor dem Hintergrund der territorialen Neuordnung des Kontinents nach dem Ersten Weltkrieg – ein ethnisch geordnetes „Europa der Völker“. Ein Begriff, den derzeit die sogenannte Neue Rechte unter dem Schlagwort des Ethnopluralismus zu rehabilitieren versucht.

„I want to wake up in that Europe I fell asleep in“, dichtet Reuter im Chorus, was der Hörer freilich nicht gleich als affirmatives Statement zu lesen braucht. Wie viel Jérôme im lyrischen Ich steckt, bleibt offen. (Mehr über ROMEs Europa-Bild und darüber, warum sich Reuter nicht vor einen politischen Karren spannen lassen möchte, lest ihr in unserem Interview aus dem April 2019.)

Die Motive der Heimatlosigkeit und der Entfremdung setzen sich auf der parallel zur „Dublin Session“ veröffentlichten Single „Hinter den Mauern der Stadt“ fort, wenn auch unter anderen Vorzeichen und mit gänzlich anderen Referenzen. Folk ist im Klangbild nicht vorhanden. Vielmehr orientiert sich die musikalische Gestaltung an ROMEs industriallastigem Frühwerk, also an Alben wie „Nera“, „Confessions d’Un Voleur d’Âmes“ und „Masse Mensch Material“. Beim Titelsong handelt es sich um eine rundum erneuerte Version des gleichnamigen Deutschpunk-Klassikers der 1986 in Ost-Berlin gegründeten Band Die Skeptiker, der das Völkische und Autoritäre nicht ferner liegen könnte. Nicht umsonst heißen zwei der großen Band-Evergreens „Deutschland, halt’s Maul“ und „Straßenkampf“.

Reuter nimmt der Nummer die Bratzgitarren, um sie durch martialische Trommeln, Konserven-Sinfonik und dezent dräuende Drones zu ersetzen. Den Gesang teilt sich der ROME-Kreativkopf mit Skeptiker-Frontmann Eugen Balanskat, der als lyrisch zünftig zulangender Zeterer manchem als der deutsche Jello Biafra (Dead Kennedys) gilt. In „Hinter den Mauern der Stadt“ kleidet dieser Arbeiterklassenpoet die Post-Wende-Gefühle vieler einstiger DDR-Bürger in eine Bildsprache zwischen urbaner Desintegration und romantischem Wanderschaftsmotiv. „Geh durch die Zeit, ewiger Wanderer du. Nirgends ein Ort, nie wieder findest du Ruh.“ Jäh dem warmen Schoß ihrer vom Sozialismus und von den Erfordernissen der Planwirtschaft determinierten Lebensentwürfe beraubt, fühlte sich mancher schlichtweg verloren – die Möglichkeiten des Kapitalismus unüberschaubar und bedrohlich, die Welt – nicht mehr von einem eisernen Vorhang begrenzt – ungeheuer riesig.  „Hinter den Mauern der Stadt, da sollte ein Paradies sein. Aber hinter den Mauern der Stadt, da brach nur die Kälte herein.“ Identität und Teilung sind auch die Stichworte, um die sich die ebenfalls deutschsprachige B-Seite „Anderswo“ dreht, auf der ROME sich so Ohrwurm-verdächtig poppig zeigt wie nie zuvor. Klanglich erinnert das etwas an Death In Rome, eine Gruppe, bekannt für ihre Neofolk-Adaptionen bekannter Hits.

Jérôme Reuter ist es auf „The Dublin Session“ und „Hinter den Mauern der Stadt“ einmal mehr gelungen, sein Werk in musikalisch neue Richtungen weiterzuentwickeln, ohne dabei langjährige Anhänger vor den Kopf zu stoßen. Auch lyrisch schafft es der Songwriter, den von ihm gewohnten Sujets immer wieder neue Facetten abzugewinnen – und das auf eine Weise, die Hirn und Herz gleichermaßen anspricht. Einen Hang zur Ambivalenz sollte jedoch definitiv mitbringen, wer sich auf inhaltlicher Ebene mit ROME auseinandersetzen möchte. Denn egal wo du dich im politischen Rechts-links Schema verortest: Diese Songs werden dich anpissen – auf die bestmögliche Art, die dazu anregt, den eigenen Standpunkt weiter zu ergründen und zu hinterfragen.

Wertung: 9 / 10

Publiziert am von Nico Schwappacher

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