Review Sylvan – Presets

  • Label: Point, Progrock
  • Veröffentlicht: 2007
  • Spielart: Rock

Als Progrezensent hat man es manchmal nicht leicht. Insbesondere dann nicht, wenn eine deutsche Undergroundband mit ihrem letzten Album nach einigen bereits sehr gelungenen Versuchen es endlich schafft, das persönliche Progalbum des Jahres zu stellen. So geschehen im letzten Jahr mit den Hamburger Jungs von SYLVAN, die mich mit ihrem Konzeptalbum „Posthumous Silence“ nach schon überaus gelungenen Vorgängeralben komplett von den Socken gehauen haben.

Mit dem sechsten Album „Presets“, welches zeitgleich mit „Posthumous Silence“ aufgenommen wurde und eigentlich schon im vergangenen Jahr erscheinen sollte, wagen die Jungs allerdings ein Experiment, dass viele der bisherigen Hörer abschrecken dürfte, die Band aber ebenso einem breiteren Publikum vorstellen könnte. Klare Ansage seitens der Band: „Presets“ vereint den typischen, atmosphärisch-geheimnisvollen SYLVAN-Sound mit kompakten und kurzen Songstrukturen, ohne große Solispots, ohne unnötige Intros, aufs Wesentliche reduziert. SYLVAN „light“ auf der Suche nach Zuspruch im Mainstream-Publikum? Ein Experiment, welches ich unterstütze, weil die Band einfach mit das Beste ist, was der deutsche Progmusikmarkt aktuell zu bieten hat; und ganz nebenbei bin ich auf den Ausgang gespannt.

Die ersten Hördurchgänge des neuen Albums ließen mich dann allerdings doch etwas enttäuscht zurück. Ein seltsames Gefühl, von der Musik einer Band, die einen sonst sehr nachdenklich und melancholisch gestimmt hat, in Konzerten sogar fast zum Weinen gebracht hat, nicht mehr berührt zu werden! Dabei trägt doch eigentlich auch „Presets“ eindeutig die SYLVAN-Handschrift. Der Sound der Jungs ist auch hier unverkennbar, sie haben ihre musikalischen Ideale und Vorstellungen für das „Popalbum“ nicht aufgegeben. Dennoch war ich etwas überrascht: Soli, Soundexperimente und ähnliche Überraschungen sind erstaunlich rar gesät, zumindest im Vergleich mit den anderen Alben der Band. Die Songs sind beinahe zu simpel ausgefallen, werden zwar von Marco Glühmanns nach wie vor absolut fantastischer Stimme getragen, die uns immer noch so schön „sophisticated“ anmutende Lyrics vorträgt, was sich die Jungs echt zum Markenzeichen gemacht haben und ihnen immer noch verdammt gut steht. Ein ums andere Mal habe ich mich aber dabei ertappt, mir nun von ganzem Herzen ein emotionales, elegisches Gitarrensolo von Kay Söhl herbeizusehnen oder mal wieder die tollen Pianopassagen seines Bruders Volker genießen zu können. Es ist wohl der Progfan in mir, dem es ganz besonders schmerzt, wenn diese Komponenten fehlen. Irgendwann merkte ich dann, was tatsächlich mein Hauptproblem an „Presets“ ist. Ich hatte die Ankündigung der Band, ein Album voller kompakterer und melodiöser Songs aufzunehmen, stillschweigend so aufgefasst, dass sie sich auf ihre rockigeren Wurzeln besinnen würden und ein paar knackige Vierminüter alá „I Still Believe“ (von „Artificial Paradise“) oder eben eine kürzere Version von „Lost“ (von „X-Rayed“) einspielen würden. Es war meine Erwartungshaltung, die mir einen Streich spielte. Ich bleibe immer noch dabei: Es wäre richtig genial gewesen, wenn die Band ein paar solch straighte Rocker rausgehauen hätte. Haben sie aber leider nicht.

SYLVAN haben sich dazu entschieden, ihre emotionale, ruhige, traurig-symphonische Seite zu präsentieren. Durchaus auch mal modern, wie z.B. im vom Poprhythmusmacher mit Beats unterlegten „When The Leaves Fall Down“ oder aber ziemlich reduziert nur mit Piano wie im nachfolgenden „Words From Another Day“ (hier liegt der Vergleich mit „Souvenirs“ von „Artificial Paradise“ mehr als nahe). Auch Streicher und dezent-rhythmisches Uptempo-Drumming alá „Clocks“ von Coldplay gibt es hier – dazu höre man „For One Day“. Die Band bemüht sich redlich, wirklich alle musikalischen Möglichkeiten auszunutzen, wenn es um das Erschaffen von stilvoller Popmusik mit einem eigenen Gesicht geht. Was dabei allerdings ziemlich auf der Strecke bleibt, ist der so wichtige Spannungsbogen, der auf „Presets“ quasi nicht existiert. Einzeln betrachtet weisen die meisten Stücke durchaus tolle Melodien, tolle Sound- und Produktionsideen auf – doch auf die gesamte Spielzeit von 62 Minuten hochgerechnet, bleibt leider nichts als der Eindruck, dass es sich hier um recht gleichförmige, eingefahrene, und entschuldigt mir das Wort, langweilige und eintönige Musik handelt. Marco Glühmann präsentiert hier eben meist nur seine sehr weiche und hohe Stimme, die rauen Ausbrüche und Heavy-Passagen, die die SYLVAN-Songs immer so interessant und spannend gemacht haben, fehlen hier völlig. Tatsächlich müssen wir bis zum Titelstück, welches der letzte Track auf dem Album ist, warten, bis erstmals eine Gitarre rifft und man den Eindruck hat, dass die Band mit Spaß und Energie dabei ist. Davor rockt das Album leider gar nicht. Dass das abschließende Titelstück zufälligerweise 12 Minuten lang ist, wundert mich auf einem Mainstream-Album auch ein wenig. Hatten SYLVAN Angst, dass ihnen die Progfans davonlaufen, wenn sie ein Album voller Vierminüter auf den Markt bringen? Dafür spricht zumindest, dass es daneben auch noch zwei Siebenminüter gibt, die folgerichtig am Anfang und etwa in der Mitte von „Presets“ platziert sind. Konsequent ist das nicht! Allerdings muss hinzugefügt werden, dass sich selbst hinter einem Zwöfminüter wie „Presets“ im Prinzip nur zwei einzelne Songs verstecken, hier wird also etwas Augenwischerei betrieben. Dennoch sind die drei längeren Nummer klar diejenigen, die zumindest dem Progfan am ehesten gefallen und zusagen werden.

Nun klingt das alles so übel und so vernichtend, dabei ist es doch eigentlich gar nicht so gemeint. „Presets“ ist durchaus ein Album voller toller, entspannender Songs. Tracks wie „Signed Away“ und „Heal“ präsentieren Melancholie und Schönheit in einer Perfektion, wie es nur wenige Bands hinbekommen, „Former Life“ ist ein richtiger Hammersong und „On The Verge Of Tears“ gehört zu den Songs der Band, die einfach sofort zünden, weil Melodie, Instrumentierung und Einfühlsamkeit hier eine wundervolle Einheit bilden. Es mag Leute geben, denen „Posthumous Silence“ viel zu aufgeblasen war, die finden vielleicht in „Presets“ ihre Erfüllung, denn Songs im wahrsten Sinne des Wortes gibt es hier zu genüge. Leider schafft es die Band nicht, den Hörer aus seiner Balladenstimmung herauszuziehen, dazu fehlen einfach ein paar Rocknummern; zwei, drei Songs hätten das Album hier in Verbindung mit den vorhandenen „Semiprognummern“ zu einem richtigen, packenden Ohrenschmaus gemacht. So bleibt „Presets“ eher die musikalische Version für Zeiten, in denen es uns nicht so gut geht und in den wir über uns und die Welt um uns nachdenken und verzweifeln. Wie das in diesen Situationen so oft ist, schafft man es nicht einen klaren Gedanken zu fassen, sondern gibt sich seiner schlechten Stimmung hin, erkennt erst später, dass es mit einem anderen Ansatz einfacher gewesen wäre. Das gilt auch für das sechste Studioalbum von SYLVAN: Der Hörer bleibt mit dem Eindruck eines seltsam öden, verwaschenen Albums zurück, dass keine klaren Konturen besitzt. Wo bleibt die Aktivierungsenergie für neue Hoffnung, wo die rockende Gitarre, die uns aus dieser Depressivität, dieser Melancholie wachrüttelt?

Ganz klar, SYLVAN hätten das Experiment meiner Ansicht nach anders angehen müssen, um auch Erfolg zu haben. Schlechte Musik bietet „Presets“ keineswegs, doch ob der sogenannte Massenmarkt tatsächlich Interesse an einem Album voller (an normalen Maßstäben gemessen) tieftrauriger, eigenartig klingender Musik hat? Ich würde zu einer tollen Ballade niemals nein sagen, aber 60 Minuten davon müssen schon sehr gut gemacht sein, um weder langweilig, noch allzu runterziehend zu sein. Für den Massenmarkt ist das Album zudem immer noch viel zu eigenständig. Vielleicht ist „Presets“ auch einfach zu lang.Sicher ist: Ich kann die tollen Songs, die „Presets“ zu bieten hat, nur einzeln genießen. Zuviel Essen auf einmal tut dem Magen auch nicht gut.

Fazit: Ich bin ein bisschen traurig und wünsche mir ganz schnell ein „Presets II“ mit lauter rockigen Krachern oder ein neues Progmeisterwerk wie „Posthumous Silence“ – das können die Jungs immer noch am besten! Warum ich trotzdem die untenstehende Punktzahl gebe? Weil die Jungs musikalisch einfach spitze sind, weil die Produktion gewohnt erstklassig ist, weil das Artwork sich gelungen in die Reihe der anderen Alben einfügt – und nicht zuletzt deshalb, weil ich mir sicher bin, dass sie es viel besser können und es auch beweisen werden! It’s time to rock, guys!

Wertung: 7.5 / 10

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