Konzertbericht: Unheilig w/ Apoptygma Berzerk, The Beauty Of Gemina

2011-01-22 Schwabenhalle, Augsburg

UNHEILIG – das kollektive Massenphänomen 2010. So oder so ähnlich könnte man das letzte Jahr für den Grafen beschreiben. Nach zehn Jahren und intensiver Suche nach seiner musikalischen Nische hatte er mit „Geboren um zu leben“ jenen schwer greifbaren Zeitgeist getroffen, wie es zuletzt Herbert Grönemeyer mit „Mensch“ im Jahr 2002 gelang. Mit der Hochwasserkatastrophe in Ost- und Norddeutschland waren die Vorzeichen damals zwar gänzlich andere als sieben Jahre später, doch der Effekt war nahezu identisch: In einem einzigen deutschsprachigen Lied fühlten sich die meisten Menschen verstanden und rannten in die Plattenläden, so dass reihenweise Rekorde gebrochen wurden. Ob alt oder jung, ob cool oder alternativ – in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise sehnten sich die Deutschen scheinbar nach einer Bestätigung für ihre Daseinsberechtigung in der Gegenwart.

Nach dem bahnbrechenden Erfolg der Single und des dazugehörigen Albums „Große Freiheit“ gestalten sich Unheilig-Konzerte etwas anders: Das war bereits bei der ersten Tournee letztes Jahr deutlich und auch auf der zweiten, der sogenannten Heimreise zum 10-jährigen Bühnenjubiläum hatten sich die Vorzeichen geändert. Sowohl im deutschsprachigen Ausland als auch hierzulande waren fast alle Auftritte im Rahmen der „Große Freheit II“-Tour so gut wie ausverkauft und auch die Kontingente für die gräfischen Gastspiele im Sommer neigen sich langsam dem Ende. „Geboren um zu leben“ ist dabei nur ein Grund von vielen, der die Faszination Unheilig charakterisiert . Indes ist auch der Graf nicht frei von Kritik bzw. Fehlern.

Natürlich wird wieder ein großer Aufschrei durch die „Schwarze Szene“ gehen: wegen den Videoleinwänden, den fehlenden Kontaktlinsen und überhaupt – weil Unheilig nun nicht mehr der ein Insidertipp für eine vergleichsweise kleine Szene ist, sondern sich musikalisch der breiten Masse angenähert hat. Dass der Graf sich dabei sichtlich wohl fühlt und seine Bühnenshow keinesfalls an den wachsenden Erfolg angepasst (sprich entschärft) hat, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Dass er selbst scheinbar immer noch das Echo der Glöckchenträger bzw. seiner „alten Fans“ wahrnimmt, werden diese wohl auch nur zum Teil mitbekommen.
So gab es in Augsburg im Vergleich zum letztjährigen Gastspiel in München einige kleine, aber feine Veränderungen, die teils auch in einschlägigen Onlineforen als Sinnbild für den Mainstream-Sündenfall von Unheilig gesehen wurden: Bei „An deiner Seite“ waren auf den Leinwänden keine roten Rosen mehr zu sehen und mit „Spiegelbild“ sowie „Sage Ja“ feierten zwei seiner selbst in Szenekreisen gefeierten Songs ihr Setlistencomeback (wenngleich „Spiegelbild“ etwas rockpoppiger und weniger elektronisch arrangiert wurde). Natürlich muss der Graf dabei im Gegensatz zu früher die Refrains selbst singen, doch genau wie „Freiheit“ und „Maschine“ wirkten diese Stücke wie ein fester Bestandteil von Unheilig 2011 und nicht nur wie eine schmucke Ergänzung aus der Zeit als die Plattenverkäufe bei weitem noch nicht die 1,5 Millionen Grenze sprengten.
Mit einem Wort sinnbildlich für den Grafen geriet „Ich gehöre mir“: Der Text im Albumbooklet spricht bereits Bände, doch live verkörpert der Unheilig-Mastermind diese Botschaft auch – und zwar nicht nur bei diesem Song oder im „Ich hab euch alle lieb“-Sinne, sondern auch auf eine aggressiv-eindringliche Art. Und: Wenn er Lust zu tanzen hat (oder wie auch immer man seine kryptischen Bewegungen nennen will), tanzt er wie er sich fühlt. Wenn er Lust auf ein Bad in der Menge hat, nimmt er es. Wenn jemand seine Musik lebt und zu ihr steht, dann ist es der Graf höchst selbst.Gegen Ende wurde vor „Große Freiheit“ noch einmal merklich an der Lautstärke gefeilt, wobei der Klanggenuss in der Arena je nach Standpunkt stark variierte. Mit dem bereits weiter oben angesprochenen „Maschine“ und der leider nur bedingt erfolgreichen Single „Für Immer“ gelang schließlich der krönende Abschluss der eigentlichen Setliste.

Neben der teils unterirdischen Akustik in den Randbereichen war leider auch die Gesangesleistung des Grafen im Schwabenland nicht frei von Fehlern. Die Strapazen des letzten Jahres gingen scheinbar nicht spurlos an ihm vorbei, denn er versägte mehr als einen Ton relativ deutlich. Das Intro von „Für immer“ bzw. den Übergang zum eigentlichen Song setzten schließlich alle Musiker zusammen in den Sand und versuchten es mehr schlecht als recht durch Gitarren- und Elektrogeschrabbel zu vertuschen.
Der unterschwellig oftmals vorhandene Pathos bzw. Kitsch während des gesamten Konzerts erreichte indes nur zwei bedenkliche Höhepunkte: Zur neuen Single „Winter“ gab es neben des offiziellen Videos noch den Grafen im winterlichen Livegewand mit Schneeflocken als Hintergrund zu sehen, während bei „Mein Stern“ eine nächtliche Himmellandschaft in verwaschenen Farben auf die Leinwand projiziert wurde. Zum Glück blieb es bei diesen beiden Fehlgriffen in die Trickkiste.
Die Videos zwischen den Stücken wurden größtenteils von der ersten Tour wiederverwertet und/oder um einige neue Sequenzen erweitert. Der sehr ausdrucksstarke Schwarz/Weiß-Kontrast war dabei wieder augenscheinlich, wobei man den Grafen vor der Akustikversion von „Astronaut“ auch in einer grünen Naturlandschaft sah. Vielleicht nur eine winzige Randnotiz und musikalisch irrelevant, aber künstlerisch eine angenehme Erweiterung des Farbenspektrums.
Wenn nicht gerade bewegte Bilder als Überleitung dienten, wandte sich der Graf auch via Mikro an die Menge. Zwar fühlte man sich dabei besonders bei seinen Erläuterungen zum Bambi und zum Bundesvision Song Contest wie bei der Sendung mit der Maus, doch unterhaltsam und vor allem natürlich wirkten die Geschichten allesamt.
Ähnlich kurzweilig geriet auch das Video vor Veranstaltungsbeginn, welches den Grafen bei seiner Unterschriftensammelaktion für den guten Zweck backstage bei The Dome zeigte. Generell: Der Leinwandeinsatz war bis auf die „Winter“ und „Mein Stern“-Parts ein echter Anschauungsunterricht für andere Künstler. So konnten beispielsweise auch die neueren Unheilig-Fans problemlos die essentiellen „Freiheit“-Stellen mitsingen. Für eingefleischte Anhänger mit Sicherheit ein Affront, aber immer noch besser als diese Klassiker und auch Meilensteine im Werdegang des neuen Massenphänomens zu verschweigen.

Apropos verschweigen: Bis zur ersten Zugabe musste die breite Masse auf den Hit des Jahres 2010 warten. Dann allerdings konnte man mit einem Blick in die Gesichter verstehen, warum „Geboren um zu leben“ so erfolgreich war und immer noch ist. Wenn selbst die gestandensten Männer und die pseudocoolsten Jugendlichen beinahe Tränen in den Augen haben oder verträumt den Text mitsingen, dann kann dies in der modernen Gesellschaft von heute einfach kein Fehler sein. Eben jenes Lied ist es auch, welches den minutenlangen Applaus sowie die stehenden Ovationen rechtfertigt – und nicht mehr „An Deiner Seite“ wie noch im April 2010 in München.

Verschweigen sollte man darüber hinaus auch nicht Schweizer Vorgruppe THE BEAUTY OF GEMINA, die den Abend mit ihrem neuesten Album „At The End Of The Sea“ eröffneten. Mit einer Mischung aus Deine Lakaien, Depeche Mode und allerlei Anleihen von vergleichbaren Kalibern aus dem Electronic/Wave/Crossover-Bereich bewiesen die vier Musiker rund um Nuuk-Gründer Michael Sele ein unglaublich gutes Gespür für atmosphärische Arrangements und teilweise auch stimmigen Goth Rock mit überraschenden Punkeinflüssen. Nur die Synthieelemente mit den zu auffälligen non-existenten Keyboards störten den rundum gelungenen Gesamteindruck ein wenig.

Die norwegischen Synth Rocker von APOPTYGMA BERZERK mit Frontmann Stephan L. Groth sind zwar seit 1989 in der Szene aktiv, doch der Ausstieg mehrerer Bandmember 2009 hinterließ bleibende Spuren: Zwar tritt Groth mit einigen neuen Musikern immer noch live auf, doch die Glanzzeiten mit dem größten Hit „Shine On“ (im Original von The House Of Love) sind inzwischen über drei Jahre vorbei. Auf der Bühne beschränken sich Apop darüber hinaus zu sehr auf eine Art Best-of Show mit ihren erfolgreichsten Singles wie „In This Together“, „Shine On“ und dem unvermeidlichen „Until The End Of The World“. Musikalisch ist das alles solider Future Pop mit teils interessanten Elektrospielereien, aber insgesamt leidlich abwechslungsreich und besonders im austauschbaren Mittelteil völlig ohne Seele. Und wenn die größte Stimmung bei einem billigen Cover von Tom Schillings Megahit „Major Tom“ aufkommt, dann sieht man vor dem geistigen Auge einen weiteren Rockstern am Himmel langsam verglühen.

Setliste Unheilig
01. Intro
02. Das Meer
03. Seenot
04. Spiegelbild
05. Winter
06. Ich gehöre mir
07. Sternbild
08. Astronaut (Piano Version)
09. Freiheit
10. Sage Ja!
11. Halt Mich
12. An Deiner Seite
13. Große Freiheit
14. Maschine
15. Für immer

16. Geboren Um Zu Leben
17. Unter Deiner Flagge

18. Mein Stern

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